Prolog

Der Ortskern wirkte ruhig und verschlafen. Es war Nachmittag, als sich die Autos um den Kreisel vermehrten. Feierabendverkehr, dachte Saskia. Das Messer ließ sich nicht mehr entfernen. Es war zu tief in den Muskel eingetreten und sie fühlte, wie ihr Kreislauf gegen den kleinen Fremdkörper kämpfte. Eine Klinge, die sich wie eine pieksende Daunenfeder anfühlte. Der Stich war trotzdem zielsicher gewesen. Das ahnte sie bereits, als sie ihren Kopf aufrichtete. Mit ihrer Hand tastete sie nach dem Messer und sah, dass die Wärme von eben nun abkühlte. Sie hatte viel Blut verloren und ihre Kleidung war in grelles Rot getaucht. Das Aufrichten bereitete ihr große Schmerzen. Ihr fehlte die Kraft, ihren Arm zwischen den großen Büschen hindurch zu strecken.

Saskia wollte kein Aufhebens machen. Die Leute würden fragen und Stefan wollte sie nicht mit hineinziehen. Sie hob ihren Kopf und überlegte, wie sie wohl nach Hause kommen könnte. Wer würde sie dann sehen und was würden sie denken?
„KS“, „HX“ – Zwischen den Ästen konnte sie einige Kennzeichen ausmachen. Sie wusste, wer wann nach Hause kam und welche Wagen gerade an ihr vorbeifuhren. Rasend schnell liefen die Bilder von einem warmen Abendessen durch ihren Kopf. Es fiel ihr jetzt schwerer, die Augen offen zu halten.
Das Blut wurde immer kälter und Saskia fror wie nie in ihrem Leben.
Als sie ihren letzten Atemzug tat, hatte die Dämmerung unweigerlich begonnen. Eben noch hatte sie darüber nachgedacht, ob sie es schaffen würde, allein zurück zu ihrer Wohnung zu kommen, als sich neue Autos mühelos um den Kreisel wanden.

Kapitel 1

Wieder stand sie still. Sie überlegte, wie oft sie sich an diesem Tag überhaupt bewegt hatte und fühlte, wie ihr Rücken stark schmerzte.
„Mesdames et Messieurs, le Code Nouvel.“
Früher hatte sie sich oft bewegen müssen, war Tage und Nächte gerannt, um den Herrschaften gerecht zu werden. Der neue König brauchte sein Personal in der meisten Zeit als Publikum. In der restlichen Zeit bewegte sie sich zwischen den Vorbereitungen der Speisen und dem Esszimmer hin und her.
Schon am Morgen hatte sie anlässlich einer Unterredung als Vorhut bei den Herzogen gestanden. Jetzt war es Mittag. Es gab wieder nichts zu tun. Zu einer anderen Zeit wäre ihr ein wenig Ruhe sehr gut bekommen. Jetzt sah sie gelangweilt aus dem Fenster mit der immer gleichen Perspektive. Besucher schätzten diesen Ausblick und lobten die weite Sicht über das Reich. Für Amalie war es die Sicht auf eine Landschaft, die im Sommer zwar blühte, aber sich nicht großartig von dem trüben Grau in Grau des Herbstes unterschied.
Paul hatte vor einigen Minuten noch ein großes Scheit ins Feuer gelegt, aber die Wärme schien so schnell zu verschwinden wie sie gekommen war. Trotzdem mochte Amalie das Leben im Schloss. Auch wenn das neue Reich mit neuen Sitten aufwartete, so mochte sie doch die Gemeinschaft und die Menschen, mit denen sie zusammen war. Als sie wieder aus dem Fenster blickte, lag dichter Nebel über der Landschaft.
„Le Code est le plus grand innovation pour votre pays. Vous obtenez vos droits et une plus grande attention. Une autre particularité sera que le siège se déplace à votre Fridericianum.“
Elsa, die neben ihr stand, hatte Amalie diskret angestupst mit einem Gesicht, das verriet, dass Elsa des Französischen nicht mächtig war. Amalie stand still und bemühte sich um Konzentration auf das, was Jérôme sagte. Wie Elsa hatte sie ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah zu Boden.
Bisher hatte der junge König keine großen Probleme bereitet. Bis zu seiner Ankunft hatte das Gesinde einen Tyrannen erwartet, der bereit war, für seinen Erfolg über Leichen zu gehen. Man vermutete, dass Jérôme das Königreich wohl eher als Spielzeug erhalten hatte, damit er in Abwesenheit seines Bruders keine Dummheiten machte. Amalie hatte Napoleon Bonaparte nur einmal gesehen und sie war erstaunt gewesen über das unscheinbare Äußere, über seinen schmalen Wuchs und die geringe Ausstrahlung, mit der er offensichtlich halb Europa eingenommen hatte.
Im letzten Jahr hatte sich ohnehin alles für Amalie geändert. Damals hatte der neue König anderes Essen gewünscht, andere Rosen im Garten und hatte über die neuen Gesetze gesprochen, die er in dem kleinen Königreich Westphalen einführen wollte. So auch heute. Ob es nun Sinn machte, dass das Fridericianum zum Parlament wurde?
Unter dem Gesinde war es nahezu unbestritten, dass der König von seinem Bruder in jeder Hinsicht gesteuert wurde. Amalie hörte nun ganz genau hin und bemühte sich, keines der von Jérôme gesagten Wörter zu vergessen, damit sie nachher Elsa und den anderen auf Deutsch Bericht erstatten konnte.
„Il est le début d’un temps nouveau et je suis fier de vous dire ceci.“
Jérôme war kein König, von dem jemals ernsthaft Gefahr ausgegangen wäre. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er ein verschwenderischer, aber guter Mensch. Das hatte Amalie gehofft und im letzten Jahr hatte sich nichts Gegenteiliges herausgestellt. Ob sich aber der „Code Civil“ in Westphalen umsetzen ließ, blieb fraglich. Sie hatte bereits von dem Gesetz gehört. Details dazu kannte sie nicht.
Elsa stupste Amalie wieder an.
„Sag´ doch!“
„Warte, ich will mir erst alles anhören. Nachher erzähle ich es Dir.“
Sie blickte Amalie schnippisch an und drehte dann ihr Gesicht wieder dem König entgegen, den sie ohnehin nicht verstand, ehe Amalie ihr ihre Zunge herausstrecken konnte.
Sie bemühte sich wieder, seinen Worten zu folgen, merkte aber bereits nach kurzer Zeit, dass Jérôme nicht mehr viel zu sagen hatte, einige Ankündigungen machte und mit den deutschen Worten „morgen wieder lustig“ schloss.
Einige Herrschaften in den vorderen Reihen bemühten sich um Amusement ob seiner Worte. In den hinteren Reihen nahm jedoch die Wichtigkeit der Zuhörer ab, sodass Amalie und Elsa bereits in der Dienstbotentür standen und hinter ihnen Paul, Bernhard und Marius gingen. Alle kicherten sichtlich erleichtert über das Ende des Stillstehens. In ihrer Küche angekommen, baute sich Marius vor ihnen auf :
„Mesdames et Messieurs, votre Code“ Er näselte dabei und verzog auf unnatürliche Weise das Gesicht, sodass sogar Bernhard lachen musste, auch wenn er Marius´ vorlaute Art nicht mochte.
Elsa und Amalie ließen sich an dem großen Tisch nieder. Ihre bleiernen Füße streckten sie unter dem Tisch aus.
„Et violá, was ast Dü üns sü berischten?“ Marius hatte sich an Amalie gewandt, die wie schon so oft bereitwillig Auskunft gab.
„Er hat ein neues Gesetz. Der Code Civil soll bei uns eingeführt werden. Er sagt, dass sich praktisch nicht so viel ändern soll, theoretisch sind wir jetzt alle gleichermaßen wichtige Staatsbürger.“
„Na, das hab´ ich gesehen, als sich diese Schlange von de Villiers vorgedrängelt hat mit ihrem viel zu engen Korsett. Die denkt doch immer noch, sie wäre in Versailles.“
„Die hättense längst ´nen Kopf kürzer machen können.“ Paul konnte sich seine Antwort auf Elsas Einwand nicht verkneifen. Sie lachten wieder und waren froh, zumindest für kurze Zeit unter sich zu sein. Marius steckte sich zwei große Äpfel auf Höhe seines Brustkorbes unter seine Hosenträger und stolzierte damenhaft durch die Küche.

Kapitel 2

„Marius, leg´ die Bosköppe wieder hin. Wir müssen los.“ Bernhard sorgte dafür, dass sich die fröhliche Runde auflöste. Die drei unterschiedlichen Männer verließen die Küche unter lautem Johlen. Elsa und Amalie blieben allein zurück.
„Diese Dinger sind nicht ohne. So eine Schmiererei.“ Elsa mühte sich mit dem Nachmittagsgebäck sichtlich ab.
„Ja, stimmt, aber so geht es. Ich setz´ noch schnell Kaffee auf.“
„Glaubst Du, dass er es wirklich so meint?“
Amalie sah auf.
„Warum sollte er nicht? Wir können´s ja auch nicht ändern.“
„Stimmt. Ich weiß noch, welche Angst ich damals hatte, als er gekommen war. Du weißt doch wegen meiner Eltern und so.“ Elsa wischte die restliche Sahne an ihrer Schürze ab.
Amalie hatte schon von Elsas Familie gehört. Es war reiner Zufall gewesen, dass sie im Stab des königlichen Gesindes gelandet war. Ihre Familie lebte in einfachsten Verhältnissen und Elsa sparte jeden Franken für sie. Amalie strich ihr vorsichtig über den Arm. Elsa hatte damals bei der Übernahme des Reiches befürchtet, ihre Arbeit zu verlieren.
„Aber es ist doch alles gut gegangen und auch diesmal wird es gut gehen. Mach´ Dir keine Sorgen.“
Sichtlich bemüht lächelte Elsa Amalie entgegen und nickte. Sie hoffte, dass Amalie wie schon so oft auch diesmal Recht hatte.
„Ja, der Winter soll hart werden, hast Du das gehört?“
„Sicher, aber wir können uns doch darauf einstellen und die letzten Winter waren auch hart. Hans geht es doch wieder besser, hast Du gesagt.“ Der letzte Winter war für Elsas jüngeren Bruder sehr schwer gewesen. Die feuchte Kälte hatte dazu beigetragen, dass sein Husten noch schlimmer geworden war. Jetzt im Herbst hatte Elsa aber noch nichts von ihm erzählt, sodass Amalie eine Besserung vermutete.
„Wir dürfen nicht immer vom Schlimmsten ausgehen – das stimmt. Es geht ihm besser.“
Elsa begann, sich wieder in die Dekoration des Kaffeegebäcks zu vertiefen. Als Amalie dies bemerkte, atmete sie selbst ein bisschen tiefer durch. Elsa hatte ihr schon oft leid getan und wünschte, dass sie bald nicht mehr die Last hatte, für ihre Familie Sorge zu tragen. Der Lohn war noch immer annehmbar, auch wenn das neue Königreich für eine Verknappung gesorgt hatte.
Für Amalie selbst machte es keinen Unterschied. Es war nun schon zehn Jahre her, dass ihre Eltern umgekommen waren. Das Feuer hatte allen Besitz und nicht zuletzt Amalies Eltern genommen. Diese Tatsache verdrängte sie zu gern und sie war froh, zumindest den ganzen Tag eine Beschäftigung zu haben, wenn sie ihr auch oft eintönig und bisweilen überflüssig vorkam. Würden ihre Eltern noch leben, so wäre aus ihr keine Magd geworden. Das wusste sie. Die Arbeit gefiel ihr jedoch während der meisten Zeit.

„Amalie, pass´ auf. Das wird schief! Nicht träumen!“
„Oh!“ Im letzten Moment rettete sie das Törtchen und dessen Sahnehaube.
„Ich glaub´, wir müssen los. Haben wir alles?“
Elsa klopfte sich den Mehlstaub von ihrer Schürze und richtete ihre Haube.
„Ja, los geht’s!“ Amalie schob den ersten Teewagen beherzt aus der Tür. Elsa folgte ihr. Mit den feinen Gebäckkreationen, dem Kaffee im versilberten Kännchen, aber auch mit ihren zerzausten Haaren unter den Hauben und ihren fleckigen Schürzen gaben die jungen Frauen ein merkwürdiges Bild ab. In jedem anderen Anwesen hätte es zusätzliches Personal zur Präsentation der Speisen gegeben. Jérôme hatte aber nach intensiver Beratung erkannt, dass man auf diese Weise Personal einsparen konnte.
Amalie und Elsa waren über diese Entscheidung nicht böse gewesen, denn früher hatte es noch einige andere Posten gegeben, die im Zuge des Machtwechsels nicht mehr nachbesetzt worden waren. Heute waren Amalie und Elsa froh, dass so manche Mamsell das Zeitliche gesegnet hatte.
Sie schoben die Wagen über plüschige Teppiche vorbei an schweren Vorhängen, die jetzt im Oktober vor dem Winter schützen sollten. Ihr Magen knurrte, aber die Aussicht auf einige Bissen wuchs, weil der König zum Kaffee zwar Petits Fours verlangte, selbst aber keine aß, sodass auch seine Gesellschaften stets ihren Appetit im Zaum halten mussten.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte Amalie das nebelige Bild von heute mittag, das sich langsam in der Dämmerung aufzulösen begann.
„Ah, mon café, merci mesdames!“ Der junge König war etwas zu eilig aufgesprungen, als ob er sich aus einem anstrengenden Gespräch hatte befreien wollen. In seinem Kamin brannte bereits ein Feuer, das die ausgesuchten Gegenstände des Raumes illuminierte.
Amalie maß kurz die weiteren Personen im Raum ab und servierte den Kaffee. Danach wartete sie mit gesenktem Kopf auf weitere Anweisungen. So hatte sie es damals gelernt, auch wenn dem neuen König diese Umgangsformen wahrscheinlich egal waren. Mit den Augen fuhr sie über die Intarsien des Bodens, deren Muster sie bereits auswendig kannte.
Jeden Tag stand sie mindestens dreimal in dieser Haltung. Heute war aber etwas anders und sie fühlte, dass ein fremdes Augenpaar auf ihr ruhte.

Schloss Bellevue, Kassel

Kapitel 3

Gardner zeigte sich kritisch. „Triffst Dich noch immer mit diesem Vaupel?“

„Warum nicht, wir hatten das doch alles schon. Er ist nur ein guter Freund und Dein Erbe ist sicher.“ Gardners Mutter hatte sich im letzten Jahr merklich erholt. Noch immer hatte er das Gefühl, ihr helfen zu müssen, fühlte aber auch seine Überflüssigkeit. Er war hier schlichtweg fehl am Platz.
„Des mein´ ich nicht. Des Geld hat mich nie interessiert. Aber der Sohn dieses Großkupferten is´ a Kapitalist, wie er im Buche steht.“
„Seinen Sohn treffe ich ja selten. Mir geht es um den Vater. Außerdem sind seine Kinder sehr nett.“
Um sich weitere Argumente zu sparen, verabschiedete Gardner sich vorläufig, nicht ohne auf den Dackel hinzuweisen.
„Und wie lange gedenken Gnädigste den Erich noch in meiner Obhut zu belassen?“
„Habt Ihr Euch denn nicht schön aneinander gewöhnt?“
In seiner Manteltasche ballte Gardner eine Faust und winkte seiner Mutter zum Abschied. Zurück auf der Straße zog er seinen Mantel fester zu. Dass der beigefarbene Trechcoat nicht nur alt und verkommen, sondern seit jeher klischeehaft gewirkt hatte, war Kriminalhauptkommissar Anton Gardner egal. Ohnehin war er nie ein Freund großer Roben gewesen und er war zudem froh, dass diese in seiner beruflichen Tätigkeit nicht zwingend notwendig waren.
Den Weg zurück über den Ständeplatz hätte man mit Fug und Recht in jeder anderen Stadt als unwegsam bezeichnet. Die stark befahrene Straße ließ für Gardner keinen Raum, um in geordneten Bahnen zu denken. Hier in Kassel galten gebastelter Straßenbelag und ein ewiges Verkehrschaos eben dazu.
Gardner lebte jetzt ein gutes Jahr hier, konnte sich aber noch immer nicht mit dem Moloch anfreunden, das die Kasseläner eine Stadt nannten, auch wenn sich für ihn hier vieles verbessert hatte. Er konnte sich noch gut an die schlimme Zeit erinnern, als man diesen Frauenkopf gefunden hatte. Damals, als er von Wien direkt nach Kassel umgezogen war, hatte ihn die Mordserie völlig überfordert. Nachher war er so ausgebrannt gewesen, dass ihm nicht nur alle Knochen schmerzten, sondern seine Lunge und sein Magen vom schlechten Essen und den vielen Zigaretten einfach zermürbt waren. Ab und zu sah er diese Diana Neumann noch. Sie war eine freundliche junge Frau und Gardner wünschte ihr nach ihren Erlebnissen eine gute Zukunft.
Er beschloss, zur Haltestelle am Friedrichsplatz zu gehen, um von dort so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Zwar war es erst vier Uhr am Nachmittag, aber die Dämmerung setzte schon ein. Kein Wunder, denn jetzt im Oktober wechselte das Wetter noch oft vom Altweibersommer bis zum ersten Schnee.

Gardner hasste Sonntage. Er hatte kein Verständnis dafür, dass er seinen Wochenendeinkauf an einem stressigen Samstag erledigen musste, wenn er ohnehin meist Dienst hatte. Am Sonntag standen die Uhren still. Die Zeit verging nie, auch wenn er abends oft der Meinung war, dass die Zeit an diesem Tag besonders schnell vergangen war. An Sonntagen besuchte Anton Gardner seine Mutter, die ihn mittlerweile wohl nicht mehr als Gast wünschte. Jetzt freute er sich auf seine Wohnung, um deren Gemütlichkeit er sich seit eineinhalb Jahren bemühte.

Lautes Bellen überspielte den tristen Eindruck, den sein Hausflur auf ihn machte. Die grauen Wände, das Geländer und die Türen waren zweifelsohne Zeitzeugen des Nachkriegsdeutschlands, von dem man in dieser Stadt noch so viel ahnte.
„Ja, wart´, dummer Kerl, gleich komm´ i.“
Erich bellte immer lauter. Der Kommissar konnte es ihm nicht verdenken, schließlich war es in der Wohnung todlangweilig.
„Joa, nu´ geh´ rein, alter Knochen.“

Gardner öffnete eine frische Dose Nassfutter. Vor einigen Monaten war dem Tier der letzte Zahn ausgefallen. Die Tierärztin hatte den Hund aber für sein hohes Alter als „erstaunlich kernig“ bezeichnet, was den Kommissar sehr stolz gemacht hatte.
Erich war ursprünglich der Hund seiner Mutter gewesen. In Wien hatte sie ein gutes Leben geführt, ehe ein Oberschenkelhalsbruch dafür gesorgt hatte, dass sie nicht mehr für sich sorgen konnte. Kassel war ihre Heimat, in die sie zum damaligen Zeitpunkt unbedingt zurück gewollt hatte. Gardner hatte sich ihr gegenüber verpflichtet gefühlt.
Nicht selten brummelte Anton Gardner über seine Entscheidung, ihr nachgezogen zu sein. Er blickte zu seinem Hund und begann, zu lächeln.
„Joa, bist doch mei´ Bester.“

Kapitel 4

„Vertan, vertan, sprach der Hahn und stieg von der Ente.“ Melitta Ledderhose kicherte leicht und wechselte das Kopierpapier. Es war ein diesiger Montagmorgen und Gardner war nicht in Hochstimmung.
„Armes Kassel, mei´ Melitta, wenn wir noch nicht einmal mehr Papier für alle Kopierschubladen ham.“ Anton Gardner wartete geduldig hinter seiner Sekretärin, die ihn mit einem Nicken und einem bösen Blick in eines der Büros ihrer Vorgesetzten signalisierte, dass mit solchen Scherzen nicht zu spaßen war. Als der Kommissar zur Antwort mit den Augen rollte, stürzte ihm prompt die Staatsanwältin entgegen.
„Mahlzeit.“
„Mahlzeit, Herr Gardner. Schön, Sie hier anzutreffen. Wissen Sie eigentlich, dass Hunde in der Leitstelle strengstens untersagt sind?“
„Des sind ja ganz neue Marotten. Des Tier läuft scho seit über einem Joar hier mit. Des is´ sozusagen a Polizeihund.“
„Herr Gardner, was hier neue Marotten sind und was nicht, das liegt nicht in Ihrem Ermessen. Zudem sehen Sie sich einmal an, was Ihr Polizeihund gerade anrichtet.“
„Ach naa, geh´ Erich. Was soll diese Sabberei?“ Gardner hob das Tier behutsam hoch. Melitta Ledderhose zückte sogleich ein sauberes Taschentuch, um die Rückstände an seiner Schnauze und auf dem Boden zu beseitigen. In der Zeit hatte die Staatsanwältin bereits kehrt gemacht. Gemeinsam schlichen sie nach unten zurück in ihr Büro.
„A Spinatwachtl is des, des kannst glaub´n.“
„Anton, der Haushalt ist ein absolutes Reizthema. Du kannst ihr doch nicht mit sowas anfangen. Kreis und Stadt sind dermaßen pleite wie schon lange nicht mehr. Manchmal bedrucke ich meine Blätter sogar beidseitig, damit ich altes Papier noch nutzen kann.“
Ungläubig sah er Melitta in die Augen.
„Du weißt aber scho, dass wir hier a Datenschutz ham?“
„Ach iwo! So, ich habe frischen Streuselkuchen gebacken von unseren ersten Bosköppen in diesem Jahr. Sprühsahne steht oben.“
„Na, na. Die las´mer lieber weg. Die schlanke Linie, weißt.“
„Anton!“
„Wie immer a Gedicht. Was gibt’s sonst Neues?“ Melitta kaute noch, begann aber währenddessen ihren Bericht.
„Am Wochenende war nicht viel, paar Schlägereien, nichts Nennenswertes. Sei froh, dass Du nix zu tun hattest.“
„Stinklangweilig war des.“
„Nie bist Du zufrieden.“ Melitta drehte sich zu ihrem Bildschirm. Gardner war froh darüber, denn er hätte nichts dazu sagen wollen, schließlich hatte der Kommissar ein gutes Verhältnis zu seiner Sekretärin.
„I mein´ ja nur, dass des nicht sein kann. Ist mir gleich, ob die sparen. Man kann sich doch ordentlich verhalten.“
„Ach, Du kennst doch unsere Papenheimer. Wegen denen müssen wir uns keinen Kopp machen.“
„Auf des Tier lass´ ich jedenfalls nix komm´. Des geht scho so lange gut, warum sollte er nun fort?“
Melitta Ledderhose zuckte zur Antwort mit den Schultern und blickte betroffen in Erichs Richtung. Der Streit hatte ihn sehr aufgeregt, sodass er jetzt noch erschöpfter aussah als sonst. Sie konnte gut verstehen, dass der Kommissar sich so für seinen Hund einsetzte. Jeder in der Dienststelle mochte Erich und sein Herrchen.
Gardner mochte man nicht unbedingt wegen seines Charakters, sondern weil er den sympathischen Hund mit sich führte und gut für ihn sorgte. Dies war allen bewusst. Sogar dem Kommissar selbst.
Melitta Ledderhose konnte sich nicht vorstellen, was mit Gardner passierte, wenn das Tier irgendwann nicht mehr lebte. Bei seinem Alter war dies jedoch keine abwegige Vorstellung.
„Dann mach´ ich jetzt einen Feierabend. Hier ist ja nix mehr.“
„Ja, geht ruhig. Wir sehen uns morgen zur Konferenz.“
„Konferenz? Oh, die hatt´ i ganz vergessen.“
Unmotiviert griff Gardner nach Erich und verließ den Raum. Alle Mitarbeiter waren aufgeregt wergen des morgigen Treffens, bei dem neben den neuen Absprachen des Qualitätsmanagements auch finanzielle Fragen besprochen werden sollten.
Die Mordkommission war bereits auf die kleinste Einheit reduziert worden, sodass Gardner keine weiteren Personalkürzungen befürchtete. Zudem war er in den letzten Monaten eher Mädchen für alles gewesen, als dass er in einem Mord ermittelt hätte. Die Aufklärung des Falls um die Tote am Fuldaufer war nun wirklich ein Leichtes gewesen, obwohl ihr Tod medienwirksam beworben wurde. Alle Bekannten hatten sich plötzlich wieder für seine Arbeit interessiert und er war wegen seiner Verschwiegenheit noch reizvoller geworden.
Was er nun bei der morgigen Konferenz zu hören bekam, war ihm aus diesem Grund völlig schleierhaft.

Kapitel 5

„Nathanael, Ihr wisst, dass das nicht möglich ist. Er vertraut in dieser Angelegenheit ganz seinem Bruder und denkt nicht, dass wir diesen Passus ändern sollten.“ Jérômes Berater schielte merklich durch seinen Kneifer. Im Stillen konnte er de Rosiers Bedenken gut nachvollziehen und hoffte, dass der Code Civil sich nicht gegen das Zunftwesen richtete. Der Feldherr hatte in diesem Schriftstück ganze Arbeit geleistet und sein kleiner Bruder versuchte sich nun an dessen Exekutive.
„Majesté, nous avons besoin de ces associations.“ Ohne die Zusammenschlüsse der Handwerker wäre keine gerechte Organisation mehr möglich, die Solidarität zwischen den Arbeitenden würde schwinden.
Jérôme hielt inne und überlegte. Kurz darauf drehte er sich erleichtert zu den plötzlich herein kommenden Dienstmägden. Seine Berater wussten, dass Jérôme die Kaffeezeit liebte, auch wenn er nie etwas aß. Er freute sich schon auf de Rosiers Gesicht, wenn ihm auffiele, dass er sich keines der Petits Fours nehmen konnte, weil es sich wegen der Etikette natürlich nicht gehörte. Er lachte in sich hinein.
Herein traten zwei junge Frauen, die offensichtlich nicht mehr die Zeit gefunden hatten, sich für ihren Auftritt umzuziehen. Sei´s drum, dachte der Berater, denn solange dieser König überhaupt gewillt war, zu sparen, sollte ihm jedes Mittel recht sein.

Nathanael de Rosier entstammte dem französischen Adel. Aus diesem Grund fühlte sich der junge König dem Gleichaltrigen besonders verbunden und hatte ihn in letzter Zeit immer häufiger in verschiedenen Dingen konsultiert. Besonders schätzte Jérôme Bonaparte, dass er ein ebenso makelloses Französisch wie auch ein sicheres Deutsch sprach, das er ihm zu vielen Gelegenheiten übersetzte.
Dass der König so gut wie gar kein Wort Deutsch sprach, war ein offenes Geheimnis und auch wenn er sich noch so sehr bemühte, so konnte er bisher nur grob radebrechen.
Napoleon Bonaparte verlangte aber Verständlichkeit. Der „Code Napoleon“ sollte in Kürze für die hiesigen Einwohner zu verstehen sein. Weil er Nathanaels Loyalität sowie seine Unterstützung schätzte, hatte er ihn zum Vorsitzenden des Garderegiments gemacht und ihn in den Kreis der persönlichen Berater aufgenommen.
De Rosier hatte es zu schätzen gewusst und genoss neben Jérômes Vertrauen auch die Vorzüge, die ein Leben an einem kleinen Königshof mit sich brachten. Insgeheim wusste er nicht, über was er sich mehr freuen durfte: Ob es die finanziellen Vorteile waren oder die Tatsache, dass er bei sämlichen Damen als gute Partie galt, auch wenn ihm die leichten Mädchen im Marmorbad wegen des schnellen Vergnügens oft lieber waren. Heute hingegen war für ihn einer der tristeren Momente. Jérôme hatte den Auftrag, das Zunftwesen in Gänze abzuschaffen.

Er war gerade mit einem gelangweilten Blick aus dem Fenster beschäftigt, als er plötzlich überrascht wurde. Eine der Tapetentüren war aufgesprungen und der Nachmittagskaffee wurde gebracht. Eines der Mädchen stellte das Gebäck zurecht, das andere schüttete den Kaffee ein.
Sein Blick blieb an einer ihrer Locken hängen, die sich vorwitzig aus dem ehemals sicher kunstvollen Frisurenarrangement befreit hatte und er kam näher, um sie zu betrachten.
Dazu verließ er seinen warmen Platz am Kamin und spürte alsbald, wie die Kälte in seine Knochen stieg. Ihre Hände flogen geschickt auf dem Wagen hin und her, ehe sie sich gemeinsam mit ihrer Genossin verbeugte.
„Merci, Mesdames.“ Jérôme war vergnügt über den Anblick des Essens und de Rosier empfand in diesem Moment eine ebenso große Abscheu gegen ihn. Die Mägde drehten sich wieder in Richtung Tür und verließen den Raum.

Irritiert schloss Amalie die Tür hinter sich und hoffte, ihre Verwirrung bald vergessen zu können. Erleichtert gingen Elsa und sie zurück in ihre Küche, um auf Paul und die anderen zu warten.

Kapitel 6

Als Gardner an diesem Feierabend nach Hause ging, genoss er die letzten Sonnenstrahlen und er hatte das Gefühl, dass der Sommer sich erneut zurückgemeldet hatte. Alles war in ein besonderes Licht getaucht. Dieser Zustand war von Dichtern oft besungen worden. Gardner war er einfach so aufgefallen und tatsächlich waren Licht, Luft und Atmosphäre nicht so wie im heißen Sommer oder wie an manchen Frühlingstagen. Deshalb verlangsamte sich sein Schritt, auch wenn er es sich nicht eingestanden hatte.
Der Hund trottete gemächlich neben ihm her. Gardner musste nicht auf ihn achten. Er brauchte keine Leine und allein sein Atemgeräusch versicherte dem Kommissar, dass das Tier noch bei Fuß ging.
Manchmal hatte das Leben solche Momente zu bieten. Dann war alles ganz normal und es gab keine besonderen Vorkommnisse.
Gardner und Erich schlenderten an den Menschenmengen am Holländischen Platz vorbei. Die neuen Studierenden wurden wohl gerade eingeführt und Gardner war froh, dass er mit derlei Zukunftsfragen keine Scherereien mehr hatte. Wie schwer war ihm doch damals das Lernen gefallen und die anschließenden Prüfungen. Das war nun auch schon über zwanzig Jahre her und doch stand seine Ausbildung heute so lebendig vor ihm, als hätte er seine Abschlussprüfungen erst kürzlich abgelegt.
Er beschleunigte seinen Schritt, um nicht in die aufgescheuchte Menge zu geraten, deren Aufmerksamkeit dem neuen Stundenplan und dem soeben bestandenen Abitur galten.
Zu Hause angekommen, klingelte es bereits nach etwa zehn Minuten an der Tür.
„Hallo, ich bin der Eike. Ich wohn´ jetzt nebenan und heute abend könnte es was lauter werden -“
Gardner blickte verwundert in die Richtung des unaufgeräumt wirkenden jungen Mannes.
„Oder wenn Sie wollen, dann können Sie auch vorbei kommen, meine Leute sind eigentlich alle ganz locker.“ Vor dem Kommissar stand ein Mann etwa um die Zwanzig, trug aber einen Norwegerpulli und einen Rauschebart, wie sie wohl selbst bei den heutigen Hochaltrigen nicht mehr im Trend waren.
„Is des jetzt Mode?“
„Äh, was denn?“ Irritert blickte er an sich herab, konnte aber keine Besonderheit feststellen. Zur Sicherheit tastete er nach seinem Hosenlatz.
„Na, i bin ja Schnee von gestern, wenn´S des so wolln. Ihr Name ist aber net von hier.“
„Ihrer auch nicht.“ Gardner zuckte zur Antwort mit den Schultern und drehte sich, um die Tür alsbald kommentarlos zu schließen.
Eike blieb noch kurz vor der verschlossenen Tür stehen, um den Eindruck seines neuen Nachbarn zu verarbeiten, machte kehrt und steckte Gardner in die Schublade zu den anderen Nachbarn, die er bisher alle als schräge Vögel eingestuft hatte.

Zurück in der Küche machte der Kommissar sich daran, ein Abendessen zuzubereiten, das nicht seinen üblichen Gewohnheiten entsprach.
„Die Frau Doktor hat´s empfohlen und Schluss. Hier wird net diskutiert.“
Erich war längst aufgefallen, dass er nicht auf einem richtigen Stück Fleisch, sondern auf einem geräucherten Tofu herumkaute, den Gardner gerade für sich und das Tier angebraten hatte.
„Schau, der Eike isst des bestimmt jeden Tag, kann´s net begreifen, wie man des – naja.“
Die Tierärztin hatte zwar gesagt, dass Erich eine erstaunliche Kondition besaß, dass beide aber im Sinne der Vorbeugung einer Typ-II-Diabetes, Herzinfarkt und anderen Zivilisationskrankheiten doch besser auf ihre Ernährung achten sollten.
Gardner war brummelnd mit seinem Hund aus der Praxis getreten, hatte aber nach einigen Tagen eingesehen, dass sie Recht gehabt hatte. Es fiel ihm wirklich schwerer, Treppen zu steigen oder sich zu bücken. Deshalb wollte er vorerst Fleisch nur noch in Maßen zu sich nehmen. Dass der Tofu in der Pfanne aber ein so trauriges Bild abgab – damit hatte er nicht gerechnet und er war froh, noch ein wenig Reis und Gemüse untermengen zu können.

Dieser Eike. Wirklich ein schräger Vogel, dachte Gardner im Stillen bei sich und rief sich dessen Outfit erneut in den Sinn. Das war sicher ein Student, dessen BAföG-Antrag noch nicht bewilligt war, wenn man nach seiner Kleidung gehen sollte. Aber vielleicht war er damit ja voll im Trend. So mancher junger Mensch sah schließlich heute so aus, als hätte er eine Altkleidersammlung aufgebrochen. Das wäre zu Gardners eigener Jugendzeit natürlich nie passiert. Er stockte und dachte dabei an seine Eltern, die über seine Falco-Lederjacke und die weißen Socken sicher ähnlich gedacht hatten. Dass er heute ebenfalls nicht zu den Bestgestylten zählte, sorgte dafür, dass er dem jungen Nachbarn trotzdem eine Chance geben wollte ohne den Partybesuch natürlich, denn dem Alter war er ja lange entwachsen.

„Ja, Tschuldigung, ich stör´.“ Gardners Handy hatte ihn plötzlich aus seinen Gedanken gerissen.
„Breuna. Junge Frau Mitte dreißig. Stich in den Brustkorb.“ Melitta klang eilig.
„Ich komm´.“ Nicht ohne sein Gericht schnell zu verzehren, machte er sich auf den Weg. Er wusste, wie lange diese Angelegenheiten dauern konnten, daher schlang er den Tofu schnell herunter.

In Breuna angekommen, fiel ihm der Fall von damals ein. Die Mutter dieser Diana Neumann hatte dort gelebt. In der Zeit war er so manches Mal sinnlos durch den Ort gewandert auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt. Sollte er nun wieder dazu verdammt sein, fernab jeglicher Infrastruktur zu ermitteln?

 

Kirchplatz, Breuna, Nordhessen
Kirchplatz, Breuna, Nordhessen

Kapitel 7

Noch einmal hatte sie ihn an diesem Tag gesehen. Beim Abendessen war es dasselbe Procedere gewesen. Mit Elsa hatte sie serviert und das Fleisch vorsichtig auf Teller gelegt.
Sie hatte deutlich seinen Blick gespürt und war wieder gegangen. Sie hatte es nicht gewagt, in seine Richtung zu blicken, etwa um zu erkennen, ob sich die Gedanken lohnten. Vielleicht war er hässlich wie die meisten von Jérômes Beratern, gegen die er selbst einen guten Eindruck machte, auch wenn die Schönheit im Hause Bonaparte so wie die Körpergröße knapp bemessen war.

Amalie wälzte sich nun im Bett unruhig hin und her. Elsa, die seit jeher neben ihr lag, schien das nicht zu stören und schnarchte genüsslich vor sich hin. Für Amalie war diese Nacht aber kaum auszuhalten. Wer war dieser Mann und warum hatte er sie so angestarrt? Kannte er sie vielleicht aus früheren Tagen und würde er sie bald darauf ansprechen? Wie alt war er ? Nach dem Eindruck, den sie hatte, musste er viel älter sein als sie selbst.
„Du, Elsa! Wach´ auf!“
„Mhm, was denn?“ Völlig verschlafen antwortete sie schließlich, nachdem Amalie kräftig an ihr gerüttelt hatte.
„Was denn? Ist schon Zeit zum Aufstehen?“
„Nee, später.“
„Warum weckst Du mich dann?“
„Weil ich Dich was fragen muss.“
Elsa richtete sich auf und zündete die kleine Kerze neben ihrem Bett an. Amalie konnte sehen, dass die eigentlich noch junge Elsa bereits tiefe Furchen unter ihren Augen hatte. Sie fragte sich, wie sie selbst wohl gerade aussehen mochte, wo sie doch heute noch gar keinen Schlaf gefunden hatte.
„Ich kann Dich nicht zwischen Tür und Angel fragen.“
„Aber wir liegen doch hier. Geht´s um Marius?“
„Wie? Nein, wie kommst Du denn auf den?“
„Dachte ja nur. Der ist nämlich nicht mehr zu haben, musst Du wissen.“
Amalie blickte überrascht, aber sie gönnte ihr ihr Glück. Überhaupt waren sie beide mit ihrer Arbeit zwar einverstanden gewesen, aber ein ganz entscheidendes Moment hatte bisher gefehlt.

„Wer ist dieser Mann, der den König heute besucht hat?“
„De Villiers oder wer? Der ist doch immer da.“
„Nein, der andere, der da noch stand.“
„Kann ich Dir nicht sagen, weiß ich nicht.“
Elsa hatte sich genervt wieder hingelegt, beleidigt darüber, dass ihrer Freundin und Kollegin heute mehr aufgefallen war als sonst und ihr damit wesentliche Details entgangen waren.
„Also mir ist kein Besonderer aufgefallen, alles alte Knispel, wenn Du mich fragst. Häng´ Dich lieber an Bernhard. Der hat ein Auge auf Dich geworfen.“
Amalie, noch enttäuscht über die nicht erhaltenen Informationen, beugte sich jetzt näher zu Elsa.
„Was ist mit Bernhard?“
„Blindes Huhn! So dumm ist der nicht, wenn Du mich fragst. Du bist zwar eine Hochwohlgeborene, aber momentan stehen wir auf gleicher Stufe. Damit kannst Du Dir Königs erste Untertanen vorläufig abschminken.“
„Elsa, Du spinnst doch!“
„Manchmal ärgert es mich dermaßen, wenn Du so arrogant wirst. Das glaubst Du gar nicht und Bernhard liebt Dich und Du? Du hast ihn doch gar nicht verdient!“
„Jetzt reicht´s aber!“ Amalie stand auf und nahm die Kerze. Sie verließ ihr Zimmer und wagte sich in ihrem Nachtgewand in den Flur hinaus. Sie wusste, dass sie ihr Zimmer nachts nicht verlassen sollte, aber was konnte sie im Falle des Streits mit ihrer Freundin schon tun? Gleich würde sie sich wieder in ihr gemeinsames Bett legen müssen, aber vorerst wollte sie wenigstens durchatmen.

Was war denn los mit Elsa? Plötzliche Männergeschichten, die sie ihr am Tag noch nie mitgeteilt hatte, kamen nun auf Anfrage zum Vorschein. Was wusste Amalie schon von Marius und Bernhard?
An keinem von ihnen hatte sie je Interesse gezeigt. Außerdem hatte sie ohnehin kein Auge für Männer. Was sollte diese überflüssige Bemerkung, dass sie eine „Hochwohlgeborene“ sein sollte?
Ihr eigentlicher Stand hatte nie zwischen ihnen gestanden. Warum auch? Amalie hatte damals in dem Feuer alles verloren, das ihren Stand ausgemacht hatte. Ihre Familie war tot und das Anwesen war abgebrannt. Übrig war nur wenig, auch wenn es für das Gesinde genug war, um einen Unterschied zwischen ihr und sich festzustellen. Sie kannte wesentliche Umgangsformen, konnte mit der Reihenfolge des Bestecks umgehen und übersetzte täglich die Sprache, die in ihrem Haus üblicherweise gesprochen worden war. Warum war sie damit plötzlich arrogant?

Kapitel 8

„Zu so später Stunde noch auf den Beinen?“ Amalie erschreckte sich bis ins Mark. Sie wusste, dass es sich nicht gehörte, im Nachthemd über den Flur zu schleichen, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass wirklich noch jemand wach war. Sie zog ihren Morgenmantel, den sie seit vielen Jahren trug und der schon bessere Zeiten gekannt hatte, fester zu und blickte verschämt zu Boden. Dabei fielen ihr auch ihre nackten Füße auf, die sie ganz vergessen hatte. Mit ihren offenen Haaren und ihrem zerschlissenen Gewand musste sie ein trauriges Bild abgeben und sie verabschiedete sich bereits im Stillen von ihrer Arbeit.

„Ihr seid sehr ruhig.“ Seine Sohlen rauschten abwechselnd auf dem Teppich und klappterten leise auf dem Parkett, während er ging. Noch immer trug er die Stiefel und die Kleider, die er tagsüber getragen hatte. Seine Hände hatte er hinter seinem Rücken verschränkt. Mehr wagte sie nicht, zu beobachten. Er ging gemessenen Schrittes, als warte er ab, was gleich passierte.
Durch das große Fenster schien der Mond spärlich und tauchte den langen Korridor in weißblaues Licht. Sie fühlte sich noch schäbiger, je intensiver sie wagte, seine Uniform zu betrachten.
Ihr Blick wanderte zwischen dem Boden, seinen Stiefeln und seinen Rockaufschlägen hin und her. Um ihre Anspannung zu lösen, überlegte sie, was sie ihm antworten könnte. Er hatte sie doch gefragt?
Eigentlich war es nicht üblich, dass sie einem hochdekorierten Offizier, wie er zweifelsohne einer war, Auskünfte zu erteilen hatte. In diesem Moment war sie nicht mehr als eine Dienstmagd im verlodderten Schlafgewand, das einen starken Kontrast zur feierlichen Umgebung des Schlosses bildete.

Er ging weiter auf und ab, nicht ohne seinen Blick von ihr abzuwenden. Langsam schien er unruhig zu werden.
„Somit konntet Ihr auch nicht schlafen!“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage gewesen, aber ihre Äußerung hatte dazu geführt, dass er näher an sie herantrat.
Grob schob er ihr Kinn so nach oben, dass sie ihn jetzt direkt ansah. Empört über dieses Verhalten verzog sie ihr Gesicht, ehe sie in seines blickte. Sie konnte nahezu den Atem in seinen Lungen beobachten und sie sah in seine Augen, die sie zu einem anderen Zeitpunkt als außergewöhnlich schön wahrgenommen hätte. Jetzt starrte ihr seine Verachtung entgegen.
Sie hatte ihm eine Antwort auf seine Frage gegeben, nicht mehr und nicht weniger. Er hielt inne und ehe sie ihm noch etwas entgegnen konnte, ließ er von ihr ab, kehrte um und ließ Amalie am Fenster stehen. Er ging wütend die lange Galerie entlang und ihr blieb genug Zeit, zumindest seinen Rücken genau zu betrachten. „Arroganz“ war wohl der Begriff, den diesen Mann beschrieb,.

Um nicht noch weitere unangenehme Begegnungen zu machen, schlich sie sich zurück in ihr Zimmer, aus dem Elsas Schnarchen schon von Weitem drang. Das Federbett schmiegte sich leise raschelnd an sie und sie freute sich über die Wärme, die die kalte Erfahrung von eben sogleich vertrieb. Amalie war froh, dass Elsa schon eingeschlafen war, denn sie hatte ihre Empörung nicht nachvollziehen können.
Was sollte Bernhard von ihr wollen? War Elsa am Ende selbst in ihn verliebt und mochte es nicht zugeben?
Noch einige Minuten rauschte ihr Kopf von den Gedanken, ehe sie doch in einen ruhelosen Schlaf fand.

Der Wecker klingelte zeitig und sorgte dafür, dass sie sich so schnell wie möglich eine Waschschüssel bereiteten, um alsbald zwar übernächtigt, aber mit neuem Elan in die Küche zu laufen, in der sie von Paul und Marius schon empfangen wurden.
„Morgen, Ihr Grazien. Habt Ihr Euch nicht wundgelegen?“ Paul machte ein sauertöpfisches Gesicht. Er versuchte, die alte Mamsell von damals zu imitieren, die ihre Frage jeden Morgen auf´s Neue gestellt hatte, egal wie früh die Mädchen aufgestanden waren.
Elsa antwortete mit einem alten Putzlappen, den sie ihm ins Gesicht warf. Morgens gab es für alle immer genug Zeit, zuerst selbst an dem langen Tisch zu sitzen und einen warmen Tee zu trinken, bis der Ofen warm und der Brotteig fertig zum Backen war. In dieser Zeit wurde besprochen, was im Hause erledigt werden musste.
Alle Zeichen waren heute auf den Code Civil ausgerichtet, der im Fridericianum verabschiedet werden sollte.

Kapitel 9

Tatsächlich. Das Dorf Breuna im nordhessischen Landkreis Kassel existiert nun schon seit dem 12. Jahrhundert. Mit den vier Ortsteilen Niederlistingen, Oberlistingen, Rhöda und Wettesingen kommt es immerhin auf eine stattliche Einwohnerzahl von über 3500 Einwohnern. Zwar liegt der Ort schon sehr nah an der westfälischen Grenze, aber als nordhessischer Ermittler wurde er hier durchaus noch benötigt. Das Dorf, das bis zum Jahr 2014 als Luftkurort und später immerhin noch als Erholungsort galt, zählte nicht zu den Orten, an denen sich Gardner wahrlich gerne aufgehalten hätte. Besonders jetzt im Herbst sah es hier grau und traurig aus. Die Plakate an den Straßen standen für sich.
„Was is des? A Volksfest?“
„Die Kirmes, Anton.“
„Kirmes, mhm.“ Nicht gerade begeistert schlich er sich an Melittas Seite auf den Kreisel zu, auf dem sich die Tote befinden sollte.
„Nicht nur irgendeine Kirmes. Man sagt: Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd. In Breuna ist es umgekehrt.“ Leicht verunsichert begann Melitta zu kichern, die sich für Events aller Art erwärmen ließ.
„Des hatt´ i befürchtet.“ Mürrisch zog Gardner ein paar Einweghandschuhe aus seiner Tasche und hockte sich neben die Verstorbene.
„Ein Bauer aus der Gegend hat sie gefunden. Der Tod ist etwa vor zwei Stunden eingetreten, als es gerade begann, zu dämmern.“ Der Rechtsmediziner hatte bereits seine Arbeit aufgenommen.
„Die leg´n also ihre Leichen zur Kaffeetrinkenszeit im Ortskern ab. Die trau´n sich wos.“
„Naja, achtzehn Uhr war es schon.“ Ein böser Blick Gardners sorgte dafür, dass der Untersuchende vorerst das Weite suchte.
„Er sagt, dass sie wohl mit einem relativ stumpfen Messer getötet wurde. Vielleicht ein Küchenmesser oder sowas. Mehr hat er mir noch nicht gesagt.“ Melitta stand schlichtend neben Gardner. Sie hoffte, dass er sich in Anwesenheit der Kollegen nicht wie so oft unmöglich benahm. Insgeheim schämte sie sich manchmal, auch wenn sie es nicht zugeben wollte.
Die Tote war etwa Mitte Dreißig, hatte dunkle kurze Haare und ihr Gesicht wirkte schmerzverzerrt. Ihre Augen waren wahrscheinlich mit Gewalt geschlossen worden. Ihre Kleidung war durchschnittlich, nicht besonders trendbewusst, aber hochwertig. So viel konnte Gardner auch ohne sein Modeverständnis ausmachen.
„Gibt´s a Portemonnaie?“
„Sie hatte einige Münzen in der Hosentasche, wollte vielleicht nur kurz etwas einkaufen. Bisher keine Daten. Der Bauer hat sie schon einmal hier gesehen, kann sie aber nicht zuordnen.“
„Okay, dann nehmen´S mit.“

Nachdem er sich den Kreisel näher angesehen hatte, ging er eine kleine Runde um die Kirche. Langsam wurde es fühlbar kälter. Rund um die Kirche sah er einige hell erleuchtete Häuser. Einen Moment lang überlegte er, ob er nicht an einer der Türen klingeln sollte, nicht unbedingt, um etwas über die junge Frau zu erfahren, sondern eher, um sich etwas aufzuwärmen. Kurzerhand entschied er sich für eine Wohnung, bei der er direkt in die Küche sehen konnte, die ihm von außen sehr gemütlich erschien.
„Nábend. Gardner mei´ Name. Kennen´s diese Frau?“ Der Kommissar hatte der jungen Frau ein Handybild in schlechter Qualität hingehalten, sodass diese blinzelte, um überhaupt eine Person zu erkennen.
„Kommen Sie ´rein.“ Sie nahm ihm das Handy ab und hielt es ans Licht. Gardner war über diese rigorose Geste sehr erstaunt, denn sie hatte noch nicht einmal seinen Polizeiausweis sehen wollen.
Die bunt verglaste Tiffanylampe spendete nur wenig Licht. Für sie schien es aber auszureichen.
„Das ist die Saskia.“
„Saskia. Und wie weiter?“
„Gebhardt. Was ist denn mit der? Sieht nicht gut aus.“
Auf dem Foto war die Tote zwar eher als Schlafende zu erkennen, aber Gardners Besuch und die Tatsache, dass sie in diesem Zustand fotografiert worden war, ließen sie Schlimmes ahnen.
„Die is´ tot.“ Der Kommissar achtete nun genau auf ihre Reaktion. Sie war einigermaßen schockiert und setzte sich auf ein zitronengelbes Sofa.
„Ja, ich kannte die gar nicht so richtig. Sind Sie bestimmt von der Polizei? Die war vor ein paar Jahren hierhergezogen. Wir sind zusammen im Kirmesverein.“ Sie redete jetzt nachdenklicher. Gardner vermutete, dass sie bereits nach den Hintergründen forschte.
Sein Versuch, hier in eine warme Wohnung zu kommen, war jedoch fehlgeschlagen und er fröstelte etwas.
„Oh, tut mir leid. Ich komme gerade erst von der Arbeit. Die Heizung läuft schon. Wenn Sie wollen, koche ich Ihnen einen Tee.“
„Wenn´s ka Umstände macht.“
„Nein.“ Gardner sah sich in dem niedrigen Raum um. Offensichtlich war er von der Haustür direkt in die Küche gegangen, die mit vielen alten Töpfen und Regalen ausgestattet war.
„A schönes Buffet haben´s da! Ich kann mich erinnern, dass meine Großeltern sowas Ähnliches hatten.“
„Sicher, hab´s vom Sperrmüll. Wahrscheinlich stand es auch lange bei älteren Leuten und dann hat es keiner mehr gewollt.“ Während sie vor dem Wasserkessel stand, blickte sie durch das kleine Fenster hinaus auf die erleuchtete Straße.
„Wie ist es denn passiert? Oder haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt?“
„Des kann ich Ihnen leider net sagen, aber erzählen´s doch von den Kirmesplänen.“ Sie goss das Wasser auf Teeblätter. Diesen Vorgang hatte Gardner erst einmal in seinem Leben auf einer Reise gesehen.
„Ich bin auch zugezogen, aber schon vor über zehn Jahren. Die Menschen hier sind offen und freundlich. So richtig konnte ich aber bisher nicht Fuß fassen und dachte, dass es gut wäre, wenn ich selbst einmal an ihrem Fest teilnehme.“
„Grundsätzlich keine schlechte Idee. Ich kenn´ des. Bin eigentlich Österreicher, Wien.“
„Schottin, Inverness.“

Kapitel 10

„Hört man nicht. Ich dachte, Sie rollen´S die Wörter mehr.“ – „Das waren die Amerikaner. Meine Mutter ist Deutsche, deshalb bin ich hier.“
„Wem sagen´S des. Ja also und nun erzählen´S mal von dieser Frau Gebhardt.“ Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und strich sachte über die alte Resopalfläche.
„Sie war eigentlich ganz normal, würde ich sagen. Kam eher unregelmäßig zu den Treffen. Ich habe nicht verstanden, warum sie sich überhaupt damals angemeldet hatte. Wahrscheinlich ging es ihr wie mir.“
„Wissen´S etwas über Verwandte oder Freunde?“
„So weit ich weiß, hat sie vorher in Kassel gelebt und ist dann wegen ihres Freundes hierher gezogen. Wohnt aber nicht mehr hier. Die leben jetzt getrennt, glaube ich. Näheres weiß ich nicht, aber vielleicht können Sie die anderen dazu fragen.“
„Welche anderen?“
„Naja, die Nachbarn vielleicht?“
Gardner spürte, dass seine Befragung die junge Frau in Bedrängnis gebracht hatte.
„Entschuldigen´S bittschön, aber ich muss des alles fragen, weil wir den Fall ja auch -“
„Ich verstehe, sicher. Naja, wenn Sie mögen, wir haben ja an diesem Wochenende Kirmes. Vielleicht können Sie dann noch mehr in Erfahrung bringen. Dort verausgaben sich die Menschen meist sehr stark.“
„Joa, i hab´ scho gehört.“
„So ist es doch immer auf dem Land, oder?“
„Gibt ja nix anderes.“
Sie begann, herzlich über seinen Pragmatismus zu lachen.
„Wenn Sie mögen, kommen Sie doch morgen mit. Wir treffen uns für die letzten Vorbereitungen um achtzehn Uhr. Dann können Sie die anderen Frauen fragen.“

Der nächste Morgen wartete mit dem Regen auf, der in den letzten Wochen nicht heruntergekommen war. Entsprechend begossen kamen Gardner und Erich im Präsidium an, rochen nach nassem Hund und waren längst zu spät für die Konferenz. Leise schlichen sie sich tropfnass in den Raum und bekamen nur noch auf den vorderen Stühlen Platz.
Seit jeher hatte Gardner Angst, sich mit vielen Menschen in einem stillen Raum zu befinden, eine Marotte, die er auf die Bequemlichkeit der Menschen in Industrieländern schob und die ihm aber bisweilen Schwierigkeiten machte. Während er zwischen den stillen Zuhörern hindurch schlich, wurde er sogleich von der Staatsanwältin aufgehalten, die sich bei ihrer Rede bisher gut gefallen hatte.
„Herr Gardner, dass Sie uns noch beehren! Ich bin froh, so können wir Ihnen gleich Ihren neuen Kollegen vorstellen.“
Gardner sah sich um und sah zunächst keinen Fremden. Selbst diesen jungen Mann mit dem komischen Vornamen von gestern abend kannte er. Dieser lächelte ihm jedoch bedrohlich entgegen und tatsächlich:
„Herr Eike Moldenhammer hat im letzten Jahr als Jahrgangsbester abgeschlossen. Ihm steht die Mordkommission ab sofort uneingeschränkt zur Verfügung.“
Zur Verfügung stehen? Gardner hatte wohl nicht richtig verstanden. Diese studentische Hilfskraft arbeitete nun bei ihm? Mit ihm gemeinsam? Der Kommissar fühlte, dass das, wofür er seit Jahren gekämpft hatte, schrecklich ins Wanken geriet. Unter dem Applaus und dem Überschwang der Begrüßung von frischem Wind stand Gardner mit Erich auf und verließ den Saal.
Was sollte das? Das Geld war doch knapp und die Morde hielten sich in Grenzen. Für was wurde also dieser Lausbub benötigt? Welchen Posten sollte der bekommen? Wütend marschierte er in sein Büro, sodass Erich kaum mithalten konnte. Um das Tier machte er sich keine Sorgen. Es kannte alle Wege. Der Kommissar war sich nur nicht sicher, ob es ihm selbst auch noch so ging.

Als er einige Notizen in der Dokumentation der Toten auf dem Kreisel sortiert hatte, stolperten Melitta und Eike in sein Büro.
„Ihr stört´S.“
„Ja, also das wäre dann Ihr Tisch.“ Bemüht um Diskretion fuhr Melitta vorsichtig mit einer Hand über den Computerbildschirm, von dem sich sogleich eine dicke Staubschicht löste, die bei Eike ein leichtes Hüsteln hervorrief. Vorsichtig beobachtete Gardner das Geschehen.
„Der is hi´, Windows Vista. War eine der besseren Anschaffungen der letzten Jahre.“
Der junge Mann blickte bedrückt im Raum umher, abmessend, ob für ihn hier überhaupt noch Platz sein sollte. Schlichtend lenkte Melitta ein:
„Ja, sie müssen entschuldigen. Wir waren hier auf Ihre Ankunft leider nicht vorbereitet, aber ich bin die Melitta. Herzlich willkommen!“
Etwas unsicher hatte sie ihm ihre Hand entgegen gestreckt und er hatte sie freundlich angenommen. Zwar war Gardner diese Schüttelei nicht recht, aber er wollte auch nicht schon am ersten Tag noch mehr Probleme machen, zumal dieser junge Mann nun auch noch sein Nachbar war.
Melitta lächelte dem Kommissar dankbar entgegen, als er dem deutlich jüngeren Berufseinsteiger die Hand gab.
„Schön, jetzt hole ich uns erst mal Käffchen und Streuselkuchen. Anton, Du erzählst vom Kreiselmörder.“

Kapitel 11

Während Amalie einige Häppchen auf dem feinen Silber drapierte, dachte sie an gestern und die Dinge, die in kurzer Zeit geschehen waren. Sie wusste, dass Elsa in keiner Weise nachtragend war und hatte heute schon früh bemerkt, dass Elsa ihr nicht mehr böse war.
Sie hatte ein zu sonniges Gemüt, um sich dauerhaft Sorgen zu machen. Wirklich ernsthafte Probleme packte sie stets sofort an, auch wenn sie in einer unsicheren Position war. Bernhard hatte sie heute ebenfalls gesehen und sie hatte sich in seiner Gegenwart sehr unwohl gefühlt. Jetzt, wo sie wusste, dass er ein Interesse an ihr hatte, glaubte sie, dass jede Unverfänglichkeit zwischen ihnen verflogen war und vielleicht ahnte er bereits, dass sie auch wusste, in welchem Zustand er sich befand. Sie hatte noch nie über Bernhard nachgedacht. Er hatte immer so wie Paul und die anderen für sie zum Gesinde dazu gehört und war ihr nie besonders aufgefallen. Amalie zweifelte daran, dass sich das je ändern würde.
Sie spiegelte sich in einem der blank polierten Tabletts, um ihr Haar ordentlich fest zu stecken. Ob sie es ganz feststecken sollte oder ob sie ein paar Strähnen locker auf ihre Schultern legte? Was war richtig? An ihrem Kleid konnte sie wenig ändern. Zwar hatte sie noch ein dunkles Leinenkleid, aber darin sah sie auch an Feiertagen so aus wie jetzt.
Früher hatte sie noch andere Roben besessen. Ihre Mutter hatte stets darauf geachtet, dass Amalie als bürgerliche Tochter wahrgenommen wurde. Sie erinnerte sich besonders an ein Kleid von grünem Taft, das damals für sie als junges Mädchen nicht besonders auffällig gewesen war, das aber so reiche Details besaß, dass die vielen kleinen Perlen und Zierborten in der Sonne und im Kerzenschein schimmerten. Aus diesem Kleid war sie natürlich längst herausgewachsen, aber wenn sie es noch hätte, dann könnte man es vielleicht ändern.
Vielleicht könnte sie später zum Markt gehen. Dort hatte sie doch bereits schöne Stoffe gesehen. Es sollte ja nicht zu feierlich werden, aber immerhin so, dass sie nicht ganz so sehr wie eine Magd aussah. Vielleicht konnte man sie ja dann auch mit den Hofdamen verwechseln?
Nein, so weit wollte sie natürlich nicht gehen. Vorerst achtete sie darauf, einigermaßen gekleidet zu sein und zog eine leichte Strickjacke über ihr Leinenkleid, denn in der Küche war es sehr kühl.

Der Wecker hatte heute sehr früh geklingelt, damit Elsa und Amalie rechtzeitig zur Vorbereitung der feierlichen Verabschiedung des Gesetzes im Fridericianum anwesend waren. Als Amalie zu Elsa in die Küche kam, hatte sie schon etliche Köstlichkeiten vorbereitet. Es sollte kleine Häppchen geben. Solche, wie man sie unter dem alten Kaiser nicht gekannt hatte. Alles in allem war die Gestaltung der Kunstwerke zwar aufwändig, aber sie mussten nicht zwingend warm gehalten werden, was für eine enorme Entspannung beim gesamten Personal gesagt hatte.
Die Art der Kreation sollte französisch sein. Die Zutaten waren deutsch. So hatte Elsa kleine Figuren aus Schwarzbrot geschnitten und mit Wurst und Fisch belegt. Dazu gab es Petersilie, Schnittlauch und sogar etwas Meerrettich, der als Variation zum Senf dienen sollte. Weiteres Gemüse hatte Elsa liebevoll zu kleinen Figuren arrangiert, sodass über die Tatsache hinweg getäuscht werden konnte, dass es sich streng genommen nicht um französische Spezialitäten handelte.
„Mesdames, wie weit seid Ihr denn?“
„Finger weg! Das ist schwierig genug.“ Elsa zischte Marius entgegen, der sich eines der Häppchen bereits geschnappt hatte.
„Hast Du doch gut geschmiert, ordentliche Scheiben hätten aber auch gereicht.“
„Das sind Kanapees!“ Amalie machte einen Einwurf, dem Marius keine weitere Aufmerksamkeit schenkte.
„Machen trotzdem nicht satt, die Dinger.“
Schnell hatte er sich ein Zweites geschnappt.
„Untersteh´ Dich. Wie siehst Du überhaupt aus?“
„Ich soll in Galarobe erscheinen und als Diener Eure Dinger kredenzen.“ Wagemutig begann Marius, eine der Silberplatten auf seinen Fingerkuppen zu balancieren.
„Dafür braucht Ihr nicht mit zu kommen.“
„Wir sollen nicht mitkommen?“ Amalie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Zwar hätten Elsa und sie sicher kein geeignetes Kleid, aber Amalie wäre gern dabei gewesen. Das Fridericianum hatte sie noch nie von innen gesehen und sicher war es ein historischer Moment, diesen Ort als Parlament einzuweihen.
„Ihr habt dafür frei, sagt die de Villiers. Das ist doch was. Wir können gerne tauschen.“
„Nee, lass´ mal. Hier, die drei kannst Du schon mitnehmen.“

Museum Fridericianum, Kassel
Museum Fridericianum, Kassel

Kapitel 12

„Deshalb seid Ihr ja auch damit betraut.“ De Villiers sah sich um und hoffte, dass man ihm die Antipathie, die er gegen diesen de Rosier hegte, nicht anmerkte. Seine Familie war schließlich eine Horde von Vertriebenen, zu Hause in Frankreich noch lange als Ungläubige bezeichnet, die man auf keinen Fall allein lassen durfte. De Villiers wusste aber insgeheim, dass seine eigenen Tage als Berater gezählt waren. Vom neuen König hatte er sich eine Ernennung zum Staatsrat gewünscht, aber Majesté schien sich jüngeren Beratern zuwenden zu wollen. Das wäre kein Problem, wäre da nicht dieser de Rosier. Er hatte etwas Falsches an sich, etwas Verschlagenes, das der alte Berater nicht zu deuten wusste.
De Villiers fühlte nicht erst mit Beginn seiner ersten Zipperlein, dass er zum alten Eisen gehörte. Es gab einige Momente, in denen er gespürt hatte, dass er sich für gewisse Vergnügungen nicht mehr eignete. Unter Franz II. Hätte es keine Hurereien im Marmorbad gegeben und überall dort, wo sich Jérôme selbst gütlich tat, waren seine Mannen auch nicht weit. Dieser Neue zählte zu den Schlimmsten.
Der alte Berater marschierte wartend in Jérômes Bureau auf und ab. Jetzt so früh am Morgen lag alles noch in dichtem Nebel. Ob sich das Volk mit den neuen Rechten arrangieren würde und ob es verstand, dass manches einer gewissen Veränderung unterzogen werden musste? Der Nebel legte einen wohltuenden Schleier über Bellevue und de Villiers hoffte, dass der erste Tag nach der Einführung des Gesetzes keine Komplikationen verursachte.
Der junge König hatte sich gut geschlagen. Seine Rhetorik reichte zwar niemals an die seines Bruders heran, aber er hatte gut geredet und er hatte in seinem Ornat als Regent gut ausgesehen. Der Auftritt und das Erscheinungsbild waren schließlich die halbe Miete, wenn es um die Überzeugung der Massen ging. Trotzdem waren die Leitprinzipien des Gesetzes eher diffus geblieben.
Jérôme veranlasste neben der allgemeinen Freiheit für sein Volk unter anderem den Laizismus und damit die Trennung des Staates von allem, was christlich und „heilig“ sein sollte. Zudem veranlasste er die Schaffung einer juristischen Basis für eine Marktwirtschaft. Gerade diese Forderung, aber auch die Forderung nach der Führung von Geburten- und Sterberegistern hatte für Unmut bei den Parlamentsmitgliedern von Magdeburg bis Braunschweig gesorgt. Überhaupt war die Sitzung abgelaufen wie kaum eine vorher.
Man konnte Napoleon Bonaparte unterstellen, was man wollte, aber er wusste, dass die Menschen die Auseinandersetzung mit den Richtlinien ihrer Regierung wünschten, so sonderbar es für de Villiers noch immer klang. Schließlich hatte er ganz andere Zeiten erlebt. Kaum vorzustellen, wenn das gemeine Volk des Royaume de Westphalie wirklich seine Meinung kundtun durfte. Wenn es teilhaben sollte an der Bestimmung um wirtschaftliche Güter. Was wäre dann?
De Villiers hielt vor einem Spiegel inne, in dem er sich betrachtete. Das Gesicht des Beraters war mit tiefen Furchen durchzogen. Ein Acker, der von der Erfahrung eines ganzen Lebens zeugte. Schon in Versailles war seine Meinung gefragt gewesen, aber was nützten Strategien, was nützten politische Entscheidungen, wenn man seine Könige an der Guillotine hängen sieht? Jérôme hatte Recht. De Villiers war kein geeigneter Kandidat mehr für einen höheren Posten. Seine Gattin zählte schon seit langem sein lichter werdendes Haar und trotzdem beschwerte sie sich nie. Vielleicht sollte er einfach gehen, jetzt und nicht mehr wieder kommen.
De Rosier hatte alles, was er selbst einst gehabt hatte. Er war jung und attraktiv, wusste sich zu artikulieren und galt Gerüchten zu folge als ein Ausbund an Manneskraft. Seine Männlichkeit war hinter vorgehaltener Hand nicht selten mit der des besten Zuchthengstes im königlichen Gestüt verglichen worden und de Villiers war bereit, jedes dieser Worte zu glauben.
„Ah, mon chèr de Villiers.“ Überschwänglich begrüßte der junge König seinen Berater, fragte ihn, was er von der gestrigen Veranstaltung hielt und schilderte ihm dann seine weiteren Pläne für die nächsten Wochen.

Die Luft des kühlen Morgens schnitt kalt durch Nathanael de Rosiers Lungen und die Nüstern seines Pferdes stießen kalte Wolken aus. Er war schnell geritten ohne sein Pferd aufzuwärmen, auch wenn er kein genaues Ziel hatte.
Jetzt stand er neben seinem Pferd, das vor Anstrengung keuchte und dessen Schweiß kleine Tautropfen im Fell bildeten. Er ging langsam den Weg zur Orangerie entlang und horchte auf die kleinen Kiesel unter seinen Sohlen. Seit er am königlichen Hof war, liebte er die Ausflüge in die Aue. Hier war er am frühen Morgen nahezu unsichtbar. Das tiefe Tal der Aue sammelte stets den Nebel in sich, was für eine gespenstische Atmosphäre sorgte. Gern ging er allein in dieser Zeit hierher, weil wusste, dass er allein sein konnte.
Der Hof war gut für ihn. Jérôme verschaffte ihm genau das, was er wollte. Nicht selten hatte er in letzter Zeit sogar das Gefühl, dass de Villiers sich bald verabschieden würde. Er wunderte sich, dass der alte Mann überhaupt noch so großen Spaß an Amtsgeschäften hatte, vielleicht, um sich an den Mädchen im Marmorbad zu erfreuen? Der gestrige Abend war diesbezüglich eher eintönig gewesen. Zwar hatte Jérôme zur Feier des Tages einige Freuden spendiert. De Rosier hatte aber keine rechte Lust dabei empfunden, was ihn im höchsten Maße ärgerte und noch mehr verunsicherte. Er konnte es sich noch nicht erklären, war ihm sein Versagen doch eher peinlich.
Als er über den Weg ging, sah er von weitem etwas Leuchtendes. War es ein großer Stein? Er trat näher und erkannte einen Korb mit Pilzen.

Kapitel 13

„Guten morgen, äh, ich dachte, jetzt, wo wir quasi Nachbarn und Kollegen sind, könnten wir doch auch zusammen fahren. Wenn Sie wollen, nehme ich sie gern mit.“ Etwas ungläubig starrte Gardner auf den Teller, den der junge Kollege sorgfältig mit Alufolie abgedeckt hatte. Im Hintergrund bellte Erich.
„Aus, Erich! Kommen´S rein.“
Eike folgte dem Kommissar in seine stickige Wohnung. Etliche Kisten standen unausgepackt herum. Er traute sich nicht, zu fragen, wie lange der Kommissar schon hier wohnte. Melitta hatte ihm schließlich bereits erzählt, dass Gardner vor mehr als einem Jahr seine Stelle angetreten hatte. Eike ging zwischen verschiedenen Hindernissen hindurch und war froh, in der kleinen Küche einen Platz zu finden. Erich war ihm sogleich gefolgt und hatte ihn scheinbar noch im Gedächtnis. Mit wedelndem Schwanz schlich er ihm um die Beine. Eike stellte seinen Teller auf den Tisch und entfernte die Folie. Gardner, der sich wohl noch zuende anziehen musste, rief aus einem Hinterzimmer.
„Wir foarn zunächst ins Büro, Melitta hat den Bauern ausfindig gemacht, der Frau Gebhardt gefunden hat und zu a paar Leute, die die junge Frau kannten.“
Sich noch am Kragen zupfend, konnte Gardner ein ehrliches Staunen nicht unterdrücken, als er die auf dem Teller liegenden Buchteln sah.
„Haben´S die selbst gebacken?“
„Jawohl, in meinem ersten Beruf bin ich Bäckergeselle, danach noch ein paar Semester Geschichte, aber naja, jetzt bin ich hier bei Ihnen gelandet.“
„Doarf probieren?“
„Sicher, die sind für Sie. Als mir Melitta erzählte, dass Sie aus Wien kommen, da konnte ich nicht anders. Vielleicht können wir ihr ja ein paar aufheben.“
Gardner war bereits dabei, das zweite Gebäckstück anzusetzen.
„Joa, also erst ins Büro, danach muss i zu mei Mutter, heute abend treffen wir uns mit einer Schottin, die in Breuna eine Kirmes ausrichtet.“
„Gut.“ Noch einige Zeit dachte der junge Kollege über die Tatsache nach, dass er jetzt wohl eher der zuarbeitende Helfer war als ein gleichberechtigter Kommissar war. Eike Moldenhammer verließ sich jedoch darauf, dass diese Schieflage wohl ein paar Buchteln und Worte des Lobes an den Hauptkommissar richten konnten.

Im Büro angekommen, machte sich Melitta sogleich über die ihr zugedachte Portion der Buchteln her und sie freute sich über den frischen Wind, den der junge Kollege mit sich brachte.
„- Ja in Hamburg habe ich dann auch noch Geschichte studiert. Hab´ mich viel mit dem neunzehnten Jahrhundert befasst. Napoleon und solche Typen. Die großen Schlachten waren irgendwie mein Ding, aber über die Prüfungen im Vordiplom bin ich halt nicht hinausge-“
„Ja, ja, sparen´S uns Ihre Schicksalsschläge. Davon haben wir hier scho genug. Melitta, erzähl´ uns lieber, was ansteht.“
Melitta bemühte sich, ihren letzten Bissen besonders schnell zu kauen.
„Die Frau heißt Saskia Gebhardt, ist achtundzwanzig Jahre alt. Geburtsdatum ist der 7.3.1977, also ein Fisch. Jemand, der eigentlich zielstrebig auf seinen Erfolg hinarbeitet. Lange Zeit hat sie das auch, aber sie gehört zur Konkursmasse von SAD.“
Gardner horchte auf. „ Ui, ich dachte, die hätten in den letzten Jahren so a großen Zuwachs verzeichnet wegen neuer Energien und sowas.“
Melitta leckte sich einige Krümel vom Finger.
„Die Chinesen schlafen aber nicht. Pleite wird die Firma nicht sein, aber es sind Köpfe gerollt und Frau Gebhardt gehörte eben dazu.“
„Und woher weißt Du des scho wieder?“
„Das ist ein offenes Geheimnis. Es gibt viele aus Breuna, die da arbeiten oder gearbeitet haben. Sieh´ Dich am besten mal in der Wohnung um. Der Bauer, der sie gefunden hat, heißt Dierkschnieder, den kannst Du auch mal anrufen.“
„Gibt es denn keine Verwandten?“
„Bisher noch nicht. Vielleicht findest Du in der Wohnung was?“ Melitta blickte nun von ihrem Computer auf zu dem Gespann, das aus einem zahnlosen Hund und zwei schlechtgekleideten Männern bestand und korrigierte sogleich ihre Äußerung.
„Oder Ihr natürlich. Bestimmt, äh, tut mir leid, Eike.“
„Gut, dann geht’s los. Komm´, Erich.“ Gardner ging mit schnellen Schritten voran. Der große Eike schlich mit dem Hund hinterher. Letzterer tat ihm so leid, dass er ihn alsbald auf seinem Arm bis zum Auto transportierte.
„Vorher müssen wir aber noch zu mei´ Mutter.“

Kapitel 14

Jetzt zum Semesterbeginn war am Holländischen Platz die Hölle los. Lisa Erkel kämpfte sich durch die Menge der Erstsemester, die sich aufgeregt nach Kursräumen informierten, um noch begehrte Plätze in den Seminaren zu erhalten.
In solchen Momenten war sie froh, nicht mehr auf Treppenstufen oder Fensterbänken sitzen zu müssen. Wie lange es ihr ganz ähnlich gegangen war, konnte sie heute nicht mehr zurückverfolgen.
Die Vorlesung zum Thema „Einführung in die Politik des 19. Jahrhunderts“ war bis zum letzten Platz belegt. Die Hörsäle anderer Unis hatte Lisa bisher als weiträumiger und großzügiger empfunden. Jetzt stand sie vor einer großen Wand aus orangefarbenem Gestühl, das sich grell von der dunklen Decke mit ihren Neonstrahlern abhob. Jeder der fast dreihundert Plätze war belegt, beide Notausgänge waren mit weiteren Hörern versperrt. Die Luft war zum Schneiden stickig.
„Bitte haben Sie Verständnis, dass die Treppen frei bleiben müssen.“ Lisa sprach es in ein Mikrophon, das nicht funktionierte. Trotzdem zog sie sogleich den Unmut der Sitzenden auf den Stufen auf sich. Sie atmete tief durch und begann.
„Mein Name ist Lisa Erkel und ich heiße Sie recht herzlich willkommen zu unserer ersten gemeinsamen Veranstaltung. Sie sind hier, weil sie sich für die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts interessieren.“
Dass ein paar vorwitzige Studierende aus den vorderern Rängen darüber spaßten, dass sie ausschließlich wegen des Scheins hier waren, überhörte sie diskret.
„Ich bin hier, um Ihnen einige meiner bisherigen Ergebnisse mitzuteilen. Derzeit promoviere ich an der Humboldt-Universität über das Leben der Familie Bonaparte. Meine Recherchen haben mich bisher nach Frankreich und Russland geführt. Nun stehe ich hier bei Ihnen und habe die Ehre, Ihnen ein paar Details über das kleine Königreich Westphalen mitzuteilen, das als Modellreich von 1807 – 1813 existierte. Hier sehen wir eine Karte.“
Auf der Leinwand hinter ihr tat sich plötzlich eine Landkarte auf, die viele Gesichter auf sich zog.
„Napoleon Bonaparte sorgte dafür, dass sein jüngerer Bruder Jérôme ein eigenes Königreich erhielt. Wir sehen, dass die Grenzen nichts mit unseren heutigen Bundesländern gemeinsam haben. Nur Paderborn als Teil vom heutigen Nordrhein-Westfalen ist geblieben. Wir sehen Magdeburg, Hildesheim, Braunschweig und einen großen Teil Hessens. Kassel lag im Zentrum und wurde damit zur Hauptstadt sowie zum Sitz des Herrschers.“
Nachdem Lisa noch einige topografische Ausführungen gemacht hatte, schloss sie ihre Vorlesung mit dem Hinweis, dass die Studierenden sich hinreichend mit diesem Königreich befassen sollten.

Sie hatte es überstanden. Lisa hatte in Berlin zwar schon mehrere Seminare zum wissenschaftlichen Arbeiten betreut, aber es gab einfach einen Unterschied, der sich sowohl auf die Anzahl der Personen als auch auf die Inhalte bezog. Einige interessierte Nachfragen waren gestellt worden, die sie gut hatte beantworten können.
Alles in Allem hoffte sie, dass es hier so weitergehen konnte. Heute nachmittag würde sie noch dieses neue Grimm-Museum besuchen, ehe sie sich wieder an die Arbeit machte.
„Frau Erkel, danke für Ihre Vorlesung. Ihre Meinung über das Königreich finde ich sehr wichtig.“
Sie staunte über den jungen Mann, der hinter ihr herlief. Sie lächelte.
„Michael Grün mein Name. Fünftes Semester Lehramt Germanistik.“ Förmlich reichte er ihr seine Hand und sie hatte sogleich das Gefühl, dass es ihm eher um ihre Person als um die Inhalte der Vorlesung ging.
„Entschuldigen Sie, ich muss weiter.“ Entschieden drehte sie sich um, aber er folgte ihr.
„Wenn Sie mögen: Vielleicht kann ich Ihnen ein paar Schätze des Königreiches zeigen oder die Orte, an denen Jérôme gewirkt hat. Oder – oder wir können auch einfach so essen gehen ohne Geschichte.“
Lisa lachte nun lauter.
„Ein anderes Mal vielleicht.“ Vorerst gab er sich wohl mit dieser Antwort zufrieden. Nicht, dass er ihr nicht gefallen hätte: Lisa hatte seine tiefen dunklen Augen und sein schlacksiges Wesen bereits wahrgenommen und sie freute sich ehrlich über sein Interesse. Trotzdem hatte sie ihre Prinzipien und diese besagten, dass man sich nicht mit Studierenden einließ, auch wenn sie im selben Alter waren. So hatte sie es schon früh gelernt. Ob man es an ihren Universitäten anders hielt, konnte sie nicht einschätzen. Auch in Kassel brodelte die Gerüchteküche heftig.

Die Sonne schien jetzt im Oktober noch einmal mit voller Kraft. Lisa zog ihre Jacke aus und hängte sie locker über ihre Tasche, während sie zur Haltestelle ging. Sie freute sich auf ihre kleine Wohnung in der Südstadt, die sie noch sehr kurzfristig bezogen hatte und die wegen einiger Mängel günstig zu haben gewesen war.
Die Vormieterin hatte nicht mehr an alte Zeiten erinnert werden wollen und sie hatte ihr erzählt, dass sie zu ihrem Freund ziehe, der in der Südstadt einen kleinen Dönerimbiss besaß. Wenn sie wollte, sei Lisa bei Handren herzlich eingeladen. Und wer weiß? Vielleicht nahm sie die Einladung dieser Frau tatsächlich an.

Die Tram 5 quietschte um die Ecke, als ob sie jeden Moment aus ihren Schienen springen wollte. Lisa quetschte sich mit gefühlt hundert anderen Personen in die Straßenbahn in Richtung Weinberg. Im Inneren ergatterte sie einen Platz, von dem aus sie einen sehr guten Eindruck von der Stadt bekam. Als sie die ersten Male mit der Tram gefahren war, hatte sie sich noch gewundert, dass sie offensichtlich quer durch die Fußgängerzone vorbei an vielen Menschen mit vielen verschiedenen Zielen fuhr. Kassel war damit zwar viel kleiner als Berlin, atmete aber doch das Chaos einer Großstadt.

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Kapitel 15

„Und? Ist es Euch in der letzten Nacht besser ergangen?“ Amalie drehte sich erschrocken um. Sie war am Morgen allein losgegangen, um nach den ersten Pilzen Ausschau zu halten. Elsa wollte sich um die vielen Fenster kümmern, die dem Schloss Bellevue zwar meist ein warmes Licht verliehen, aber auch viel Arbeit machten.
Der Tag hatte wundervoll begonnen. Die Sonne meldete sich in letzter Zeit nur noch selten, sodass Amalie jede Minute nutzte, um sich draußen aufzuhalten und ein bisschen zu trödeln. Nach den gestrigen Feierlichkeiten und der damit verbundenen Arbeit konnte es ihr sicher niemand verübeln. Tief in Gedanken versunken hatte sie sich auf den Boden mit seinen vielen unwegsamen Stellen konzentriert in der Hoffnung, tatsächlich eine Pfanne damit befüllen zu können. Darüber hatte sie das herannahende Pferd und seinen Reiter wohl überhört.

Mit einem Satz stieg er ab und ließ das Pferd grasen. Er ging auf sie zu und sah sie direkt an. Lieber hätte sie ihren Blick abgewendet, aber etwas in ihr verhinderte es. Seine Art hatte sie bisher so wütend gemacht, dass sie nicht einsehen wollte, sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu unterwerfen. Ihre Augen waren stolz und das fühlte de Rosier, der seinen Blick sogleich auf ihr Körbchen richtete. Er sollte wissen, dass er hier am Hof nicht der Wichtigste war und dass seine Auftritte in ihrer Gegenwart bisher völlig unangemessen gewesen waren.
De Rosier. Das war sicher verarmter französischer Landadel, bestenfalls aus der Provence. Sie sah, dass ein Lächeln seine Lippen umspielte und Amalie fühlte sich in ihren Gedanken ertappt. Sollte er doch denken, was er wollte. Sie würde sich von ihm nicht herumkommandieren lassen.
„Hier ist noch einer, seht.“ Er nahm ihr vorsichtig das Körbchen aus der Hand und legte einen neuen Pfifferling hinzu. Amalie bemühte sich, möglichst unbeeindruckt zu erscheinen. Er ließ sich dieses Verhalten nicht anmerken und begann, zu erzählen während sie weiter gingen.
„Meine Mutter kam oft hierher, als ich ein Junge war. Da gab es hier noch mehr Pilze. Sie hat mir erklärt, welche essbar und welche giftig sind.“ Das Körbchen in seiner Hand sah anrührend aus, fand Amalie. Nathanael de Rosier war zu jeder Tageszeit schließlich so gekleidet, als wollte er gleich ein Heer von Napoleons Truppen anführen. Nur seine weißen Handschuhe zog er jetzt aus und Amalie konnte die feinen blauen Linien unter seiner Haut erkennen.
Unweit entfernt hörte Amalie das leise Rupfen seines Pferdes. Sie ging weiter und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel.
„Eigentlich ist es recht einfach, sie zu unterscheiden.“ Er hob vorsichtig ein Stück Unterholz an und entfernte sanft die Erde um eine kleine Gruppe. Sie achtete darauf, wie geschickt seine Finger arbeiteten und erkannte, dass sie so hell und makellos waren, dass Amalie das Spiel der Sehnen verfolgen konnte. Dass sich die Erde an seinen Fingernägeln absetzte, schien ihn nicht zu stören.
„Aber das wisst Ihr sicher, Mademoiselle.“ Er legte die Pilze behutsam in das Körbchen zu den anderen. Amalie starrte ihn ungläubig an. Sie gingen gemeinsam weiter. Hier und dort bückte er sich, um das Körbchen mit weiteren Pilzen zu befüllen und Amalie konnte nicht glauben, dass ihr dieser Mann tatsächlich half.
Sie sah sich von Mal zu Mal um, denn was dieser de Rosier hier tat, war eigentlich unter seinem Stand. Sie hoffte, dass sie beide niemand sah und ihr wäre auch keine vernünftige Erklärung für sein Verhalten eingefallen. Was wollte er mit dieser Geste bezwecken? Er ging neben ihr, aber er verhielt sich ruhig. Das wunderte sie. Sie hätte sich weniger gewundert, wenn er direkt zur Tat geschritten und über sie hergefallen wäre. Schließlich war es üblich, dass sich die Soldaten nahmen, was und wen sie wollten. Das war allgemein bekannt und wurde auch unter dem neuen König kaum geahndet. Amalie war froh, bisher vor derartigen Angriffen verschont worden zu sein.
„Aber wer hat es Euch gelehrt?“
„Was?“ Amalie war auf eine weitere Frage seinerseits nicht vorbereitet.
„Das Pilzesammeln. Wie kommt es, dass Ihr sie zu unterscheiden wisst?“ Er hatte seinen Kopf nun leicht zur Seite geneigt und lächelte, als er nachfragte.
Warum sprach er sie überhaupt im Pluralis Majestatis an? Es gab keinen Grund, sie nicht zu duzen, schließlich sammelte sie gerade Pilze für die königliche Pfanne und offen gesagt fühlte sie sich angesichts seiner prächtigen Roben immer etwas schäbig. Das Leinen, das sie trug, hatte sie schon unzählige Male gestopft. Die Verwechslung mit einer Hochwohlgeborenen stand also außer Frage.
„Ja, mir hat es auch meine Mutter erklärt. Sie lebt nicht mehr.“ Amalie biss sich im selben Moment auf die Zunge. Hätte diese Information noch sein müssen?
„Ihr seid noch sehr jung. Das ist ungewöhnlich.“
„Meine Familie kam bei einem Brand ums Leben.“
Er antwortete nicht. Amalie fühlte aber, dass er über Worte nachdachte, die er zum Trost anbringen konnte.
Als sie keine weitere Antwort bekam, berichtete sie – nun auf Französisch – dass sie seit über zehn Jahren sowohl unter dem Landgrafen als auch jetzt bei Jérôme in Stellung sei. Elsa sei anfangs nur ihre Kollegin gewesen, jetzt aber auch ihre beste Freundin. Sie erzählte, dass ihr die Arbeit als Dienstmagd nicht schwer fiel. In ihrer Familie sei sie harte Arbeit gewohnt gewesen und der neue König sei ein guter Mensch.
Amalie fühlte, wie die Worte aus ihrem Mund strömten und sie nicht mehr aufhören konnte, zu erzählen. Derweil hatte de Rosier zuerst verwundert aufgeblickt und hatte nach der Feststellung ihrer exzellenten Wortwahl einfach zugehört. Ab und zu stellte er ihr eine interessierte Nachfrage, ehe sie eine längere Pause machten.
Das Gelände wurde zunehmend unwegsamer, was zwar für den Wuchs der Pilze günstig war, aber den beiden Suchenden das Gehen enorm erschwerte. Mehrmals knickten beide um und sie begannen nach einer Folge des abrubten gegenseitigen Festhaltens herzlich zu lachen.
Als sie einige Steine passiert hatten, begann de Rosier selbst zu erzählen.

Prolog

Der Neumond half ihm in dieser Nacht nicht wei­ter. Es war so dunkel in der Aue, dass er kaum sei­nen Atem erkennen konnte, der bei dieser Kälte in der Luft kondensierte und zu allem Überfluss die Brille beschlagen ließ.
Wer hatte gesagt, dass so ein frühmorgendlicher Lauf die Stimmung förderte? Ach ja, seine Mutter. Mit ihrem „etwas Fleisch und frische Luft täten dir gut, dann würdest Du auch eine Frau finden!“ ging sie ihm schon lange auf die Nerven. Aber wie im­mer hatte er ihr am Ende Recht gegeben und sich im lokalen Laufladen überteuerte Schuhe andre­hen lassen. Jetzt stand er mitten in der Botanik und mühte sich ab, überhaupt zurückzufinden. Er ver­suchte, das Stechen in den Seiten zu ignorieren.
Als Kind im Sportunterricht war ihm vom Lehrer immer gesagt worden, dass das von zu viel quat­schen während des Laufens käme und er selbst Schuld sei, aber dass das kein Grund wäre, den 1000m-Lauf abzubrechen, schließlich bräuchte er noch eine Note von ihm. Dankeschön dafür, er hät­te jetzt liebend gern jemanden zum „Quatschen“ dabeigehabt, stattdessen lief er in dunkelster Nacht frierend durch den Park.
Er merkte, dass er keine Orientierung mehr hatte. Wo war die letzte Abzweigung gewesen? Irgendein Baum oder ein wenig Kunst, die ihm Anhaltspunkte lie­fern konnten, wo er war? Verdammtes Kassel, ewig schlechtes Wetter und üble Architektur. Ei­gentlich blöd, sich hier zu verlaufen, wo er doch schon hunderte Male durch die Karlsaue spaziert war und jeden Punkt genau kannte. Aber bei die­ser Dunkelheit konnte man gar nichts sehen. Das Gebiet war zudem ein sehr großes und verzweig­tes. Das hatten die Herren Landgrafen schon ganz gut geplant, dachte er bei sich. Im Sommer war es hier schön, wenn man die Stadt hinter sich lassen konnte. Jetzt wollte er einfach nur weg und zurück in sein Bett.
Plötzlich fiel ihm etwas auf. Abseits des Weges. Er wusste nicht, was es war, zwei rote Punkte viel­leicht, etwas sich Bewegendes. Die letzte Docu­menta war ja schon zwei Jahre her. So ein Werk war ihm nicht bekannt, schon gar nicht hier im Stadtpark. Mit jedem Schritt kam er den Signalen näher und langsam erkannte er Umrisse. Sich be­wegende Umrisse. Er wusste nicht woher, aber dieses Ding kam ihm irgendwie bekannt vor. Ein Gefühl von völliger Hilflosigkeit gepaart mit Angst, die ihn zum Schwitzen brachte und ihn er­starren ließ. Starre.
So ähnlich ließ sich auch das beschreiben, das er jetzt vor sich sah. Eben noch von einer Bewegung angelockt, war es jetzt ein fester Anblick: Im Geäst eines alten, majestätisch anmutenden Baumes bau­melte ein menschlicher Kopf.
Es musste eine Frau gewesen sein, denn lange Haare mit einst feinen Gesichtszügen waren zu einer schrecklichen Maske verzerrt. Augen und Mund weit aufgerissen, konnte er nur ahnen, wel­che Qualen sie erlitten haben musste.
Das Gesicht war zudem weitgehend zerkratzt und wirkte auf­geschwemmt, als hätte sie im Wasser gelegen. Der Hals musste fein säuberlich mit einem scharfen Messer vom Rumpf getrennt worden sein. Ein Anblick, den man so schnell nicht vergessen wür­de.
Gekrönt wurde das Arrangement durch das Ungeziefer im Haar der Frau. Verschiedene Käfer, aber vor allem kleine und große Blindschleichen rangen um ihren Platz und um die beste Beute im Haupt der Verstorbenen.

(1) „Medusenmord“

… war der Titel, den Diana auf Seite eins der Regionalzeitung zwar ziemlich reißerisch fand, aber der sie immerhin aufhorchen ließ. Rein zufällig blickte sie auf die Schlagzeile der Zeitung, deren Horoskope sie bisher für das Informativste gehalten hatte. Etwas flau wurde ihr bei dem Ge­danken an die Tat.
Auf dem Rückweg von ihrer Arbeitsstelle hatte sie schon einige schräge Vögel getroffen, die sie angesprochen hatten. Nie hätte sie ihre Südstadt als sicheres Viertel bezeichnet, aber Mord schien ihr doch zu weit zu gehen. Wer sollte denn? Warum denn auf diese Art? Und hier in Kassel? Hier war allerdings schon einiges pas­siert, man denke nur an die Haltestelle, die jetzt „Halitplatz“ hieß.
Die Milch war eindeutig schlecht. Der plötzliche Wetterumschwung der subtropischen Hitze des Sommers zum Herbst – es war August – ließ auch in ihrem Frühstückskaffee einen sauren Ge­schmack zurück. Enttäuscht kippte Diana ihre Tas­se in den Spülstein und zog sich beherzt ihren wär­menden Mantel an, den sie erst gestern aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks gefischt hatte.
Es fühlte sich fremd an, sich so abrupt umstellen zu müssen, war sie doch gerade erst von der Pari­stour zurückgekommen, bei der es noch lauschige fünfundzwanzig Grad Celsius gewesen waren. Die französische Lebensart und ihre Leichtigkeit waren kein Vergleich mit dem sturen Nordhessen, von dessen Einwohnern gern behauptet wurde, dass der einzige Ort an dem sie lachten, der Keller sei.
Der Kater protestierte heftig, als sie den Schlüssel drehte. Moustache war gewöhnt an ein fürstliches Frühstück und wollte sich nicht mit Trockenfutter abspeisen lassen. Diana seufzte und widmete sich dann noch einmal der Zubereitung einer morgend­lichen Mahlzeit für das Tier.
„Ach, Dich haben wir wieder vergessen. Hier, mon chér, bitte zu Tisch.“ Schnell kippte sie den Inhalt einer „Schleckie“-Dose in seinen Napf und verschwand danach im Dickicht des plötzlichen eingetretenen Herbstes.

Die Kasseler Südstadt liegt sehr tief. Der Nebel steht entsprechend dicht und nur der Weinberg streckt sich in diesen Stunden aberwitzig hervor. Keine Autos oder Straßenbahnen sind zu dieser Zeit zu sehen und die Menschen kämpfen sich am Berghang vorwärts.
Das imposante Gebilde des Weinberges wurde im Mittelalter für den Weinanbau genutzt, erfüllte später aber eher dekorative Zwecke. Sein Inneres ist nur wenigen zugänglich, denn das Betreten des riesigen Labyrinths, das der Bevölkerung im zwei­ten Weltkrieg als Bunker diente, ist mit vielen Ge­fahren verbunden. So genießen die Menschen lie­ber den Ausblick von oben und lassen sich im Sommer anlässlich ihrer Hochzeiten fotografieren.
Diana hatte das schon mehrfach beobachtet und neidvoll zu den glücklich aussehenden Paaren her­aufgesehen, die sich hier ablichten ließen. Ihre letz­te Beziehung war ein Chaos gewesen. Aaron lebte in seiner eigenen Welt. Als Spezialist für IT-Lösun­gen hatte er sein Hobby eindeutig zum Beruf ge­macht. So sah Diana irgendwann nur noch seinen Kopf vor dem flimmernden Bildschirm, ob nun be­ruflich oder privat. Sie hatten sich getrennt ohne jede Leidenschaft während und nach ihrer Bezie­hung.
War eigentlich ein lieber Kerl gewesen. Was Aaron jetzt wohl machte? Ob sie das noch einmal heraus­finden würde, blieb so unwahrscheinlich wie das Erscheinen der Sonne an diesem Tag.
Diana zog ihren Mantel noch fester zu und verbarg ihr Gesicht fast bis zur Hälfte im Schal. Der Weg zur Murhardschen war zwar kurz, aber intensiv, weil sie vom Fuß des Weinberges vorbei am Kran­kenhaus zu ihrer Bibliothek laufen musste. Hier schien das Klima plötzlich zu wechseln oder Diana war nicht mehr fit genug, die Steigung ohne keu­chen zu bewältigen, jedenfalls hatte sie auf der Höhe des kleinen Pavillons den dringenden Wunsch, sich sämtliche Kleidungsstücke vom Leib reißen zu wollen.
Sie dachte an die Zeit mit Aaron und an die Tatsa­che, dass sie beide genug Fehler gemacht hatten. Ihre Untersuchungen für die Bibliothek und die Beförderung hatten Diana ziemlich mitgenommen. Als Bibliothekarin mit Master-Abschluss galt Dia­na gemeinhin als hochqualifizierte Kraft. Alle wussten das, aber die Aufstiegsmöglichkeiten wa­ren eben gering und so arrangierte sie sich mehr schlecht als recht mit der Tatsache, dass sie das Ar­chiv vermutlich bis zur Rente betreuen würde und dabei finanziell irgendwie auskäme.
Sie ging noch zügiger, um von der Hitzewelle nicht wieder in eine Kaltfront zu geraten und so gelangte sie schließlich zu der alten Bibliothek, die bei dieser Witterung angenehm beleuchtet wurde.

Abseits

Die Kasseler Südstadt liegt sehr tief. Der Nebel steht entsprechend dicht und nur der Weinberg streckt sich in diesen Stunden aberwitzig hervor. Das imposante Gebilde wurde im Mittelalter für den Weinanbau genutzt, erfüllte später aber eher dekorative Zwecke. Sein Inneres ist nur wenigen zugänglich, denn das Betreten des riesigen Labyrinths, das der Bevölkerung im zweiten Weltkrieg als Bunker diente, ist mit vielen Gefahren verbunden. So genießen die Menschen lieber den Ausblick von oben und lassen sich im Sommer anlässlich ihrer Hochzeiten fotografieren. Diana hatte das schon mehrfach beobachtet und neidvoll zu den glücklich aussehenden Paaren heraufgesehen, die sich hier ablichten ließen. Ihre letzte Beziehung war ein reines Chaos gewesen. Aaron lebte in seiner eigenen Welt. Als Spezialist für IT-Lösungen hatte er sein Hobby eindeutig zum Beruf gemacht. So sah Diana irgendwann nur noch seinen Kopf vor dem flimmernden Bildschirm, ob nun beruflich oder privat. Sie hatten sich getrennt, ohne jede Leidenschaft während und nach ihrer Beziehung. ,War eigentlich ein lieber Kerl. Was Aaron jetzt wohl macht?´ Ob sie das noch einmal herausfinden würde, blieb so unwahrscheinlich wie das Erscheinen der Sonne an diesem Tag.
Diana zog ihren Mantel noch fester zu und verbarg ihr Gesicht fast bis zur Hälfte im Schal. Der Weg zur Murhardschen war zwar kurz, aber intensiv, weil sie vom Fuß des Weinberges vorbei am Krankenhaus zu ihrer Bibliothek laufen musste. Hier schien das Klima plötzlich zu wechseln oder Diana war nicht mehr fit genug, die Steigung ohne käuchen zu bewältigen, jedenfalls hatte sie auf der Höhe des kleinen Pavillons den dringenden Wunsch, sich sämtliche Kleidungsstücke vom Leib reißen zu wollen.
,Wir haben beide Fehler gemacht. Meine Dokumente haben mich auch zu sehr beansprucht und dann die Ankündigung der Beförderung im letzten Jahr …´ Für die hatte Diana sich aufgerieben. Als Bibliothekarin mit Master-Abschluss galt Diana gemeinhin als hochqualifizierte Kraft. Alle wusste das, aber die Aufstiegsmöglichkeiten waren einfach gering und so arrangierte sie sich mehr schlecht als recht mit der Tatsache, dass sie das Archiv vermutlich bis zur Rente betreuen würde und dabei finanziell irgendwie auskäme. Als Highlights des Tages galten somit interessierte Studenten, die sich für Hausarbeiten informieren wollten. Deren Interesse bezog sich dabei in den meisten Fällen aber vor allem auf ihre Zensur, nicht auf den eigentlichen Inhalt des Gelernten, was Diana immer bemängelt hatte. Sie ertappte sich oft bei diesen Gedanken in dem Wissen, dass ihre Eltern ähnlich gedacht hatten. Daher wollte sie künftig besser aufpassen, nicht selbst zu altbacken und matronenhaft daher zu kommen.

(2) Mensch Diana,

wo bleibst Du denn, die Schneider macht mir die Hölle heiß! Die Frist läuft aus und Du bummelst seelenruhig in der Gegend herum“
„Guten Morgen, die soll sich mal nicht so anstellen. Wir sind so gut wie fertig, nur noch die Reihe sechsundsiebzig fehlt.“
„Du hast echt Nerven.“ Mina Albrecht war ihr in den letzten Jahren eine gute Freundin geworden. Seit dem ersten Tag mochte sie die moderne, aber stets gehetzte Kollegin. Neben einem starken Hang zur Geschwätzigkeit war sie vor allem für ihre dramatischen Auftritte berühmt.
Mittlerweile liebte Diana ihre Arbeit in der Murhardschen, nicht zuletzt wegen der alten Folianten, in die sie sich beizeiten vertiefen konnte. Bei ihrer Ankunft in Kassel hatte sie so wie viele eher einen schlechten Eindruck von der Stadt gehabt. Die alte majestätische Bibliothek war aber ein sicherer Hinweis darauf, dass sie sich für die richtige Stadt entschieden hatte. Das Gebäude existierte immerhin seit 1905 und gilt noch heute als namhaftes Archiv für geschichtliche Zeugnisse. Diana hatte sich im Studium auf das Altertum konzentriert und auf die Texte, die aus dieser Zeit überliefert waren. Schon immer hatte sie gern klassische Werke gelesen, hatte die Reise des Odysseus oder die Verwandlungen des Ovid mitverfolgt. Die Murhardsche besaß die Eigenheit, dass sie viele klassische Werke verwaltete und damit bei der Jobsuche in Dianas nähere Auswahl gekommen war.
„Hier, die Sechsundsiebzig, bitteschön!“ Mina wuchtete einen dicken Aktenordner vor Diana auf den Tisch, der unter Knallen eine erschreckend große Staubwolke aufwallen ließ.
„Ja, stimmt. Da war noch was.“ Gedankenverloren begab sich Diana an die Vorbereitung einer Präsentation, die anlässlich eines längst ausstehenden Audits die alte Bibliothek ins rechte Licht rücken sollte. Ihre Vorgesetzte Frau Schneider hatte sie darum gebeten, in dieser Präsentation eine Inventur vorzunehmen und aufzuzeigen, dass in eine ISO-Anerkennung lohnenswert investiert wurde.
Um den Auflagen der Universität Kassel gerecht zu werden, hing die alte Murhardsche immer etwas hinterher, galt aber als wichtiges Archiv für die gesamte Region. Daher hatte sie noch immer den Status als Bereichsbibliothek und man war gegenüber Fristen und Abgabeterminen entsprechend tolerant.

Der Ordner der Nummer Sechsundsiebzig war gnadenlos vollgestopft worden mit alten Fotos, Dokumenten und Schnipseln aus der Zeit der beiden Kriege.
„Hier ist ein altes Foto des Aschrottbrunnens, guck mal.“
„Ach, da hat man ihn noch gesehen.“ Die kleinformatige, vergilbte Abbildung hatte einen leicht gezackten Rahmen, wie er heute nicht mehr vorkommt und den Diana nun vorsichtig über ihre Fingerkuppe fahren ließ.
Der Aschrottbrunnen am Rathaus wurde im zweiten Weltkrieg zerstört. In Gedenken an die Kriegszeit hatte man den Brunnen nun in die Tiefe gebaut. Vor dem Rathaus ist heute nur eine ebene Fläche zu sehen, durch die man das Wasser rauschen hört. Diana blätterte weiter.
„Also hier sind Fotos historischer Stadtansichten. Ich schlage vor, ich scanne die interessantesten ein und ordne sie chronologisch, soweit sich das nachvollziehen lässt. Hier haben wir noch den Herkules und die alte Gegend um den Weinberg, sogar Zeichnungen vom Goethe-Elefant. Armes Tier!“
„Wieso, hatte doch immer feinstes Futter und konnte sich den ganzen Tag die Sonne auf den Hintern scheinen lassen.“
„Aber der ist doch bei einem Sturz gestorben und war für einen Elefanten doch nun wirklich nicht alt.“
„Hach ja, jetzt zügel´ mal Deine Vorliebe für Dickhäuter, wir müssen noch zu Potte kommen.“
Bis Mittag hatten die Kolleginnen eine stattliche Sammlung alter Ansichten zusammengetragen. Die Stadt zeigte sich aus einer anderen Perspektive und ließ ahnen, welchen Schaden der Krieg angerichtet hatte. Eine Ablenkung kam Mina jetzt wie gerufen.
„Hast Du Lust auf ´nen Kaffee in der Stadt? Unsere Plörre holt ja keinen hinter´m Ofen hervor.“
„Nein, nicht in die Stadt, ist mir zu viel los. Wollen wir zu Handren?“
„Na gut, aber nur, weil er die beste Sauce jenseits von Euphrat und Tigris macht, ab geht´s.“
Diana war der Trubel der Innenstadt stets unangenehm. Zwar liebte sie das Bummeln in den Geschäften der Königsstraße, aber in letzter Zeit war ihr mehr nach Ruhe. Da kam ihr der Besuch bei ihrem Lieblingsdönerverkäufer gerade Recht. Sein kleiner Laden an der Frankfurter Straße war ihr seit ihrer Ankunft in dieser oft kalten Stadt wie eine Oase der Wärme erschienen. Handren bot regelmäßig orientalische Spezialitäten an, die teilweise er, teilweise seine Verwandten selbst zubereiteten. Gespickt mit einer fremd anmutenden Dekoration, die oft bis ins Kitschige reichte, war dies eine ganz andere, willkommene Welt, in der andere Regeln galten als in ihrer eigenen.

(3) „Die denken sich

aber auch immer tollere Sa­chen aus, mhm, Meduusenmooord! Mann, wenn ich mal so schreiben dürfte, das wär´ was für mich.“ Mina hüpfte leicht auf ihren Absätzen nach oben, als wolle sie über etwas hinwegsehen. Diana konnte die schon von weitem die Schlagzeile. In einer Bäckerei lag die Zeitung zum Verkauf.
„Meld´ Dich doch mal, Du kannst bestimmt an­heuern.“
„Nee, aber ernsthaft, hast Du davon gelesen?“
„Ja, heute morgen hatte ich´s im Kasten.“ Diana balancierte zwischen Hundekot und weiteren Ab­fällen zur Haltestelle. Mina war von der Schlagzei­le ebenfalls beeindruckt, aber sie wusste, dass man Kassel auch als Pflaster, das nicht ohne war, be­zeichnete.
„Meinst Du wie im Fall der Gorgo?“
„Ja, der hat ihren Kopf abgetrennt und es sollen Blindschleichen drin gewesen sein. Super Morgen­post, noch dazu mein Kaffee, der mit umgekippter Milch ekelhaft schmeckte. Lecker!“ Zu sehen war auf Seite eins aber nicht die Leiche, sondern ein nicht minder erschreckendes Gemälde von Ru­bens, das seinerzeit schon für Aufsehen gesorgt hatte. Diana konnte sich daran erinnern, dass es eher als Kuriosität für interessierte Bürger, weni­ger als Hinweis auf die antike Geschichte dienen sollte.
„Na, wenigstens haben sie kein Foto der ech­ten Leiche reingestellt.“ Mina spannte rhythmisch ihren Schirm auf, denn es hatte zu nieseln begonnen. Die beiden Frauen stellten sich näher zusammen, um vom Schutz des Schirms eingefangen zu sein.
„Eine Gorgo, einst die Schönste der Schönen, war sie doch die Geliebte des Poseidon. Tja, vielleicht kam mal wieder eine eifersüchtige Athene, der sie zu schön war und ihr gefährlich wurde?“ Mina lachte nach ihrer Ausführung laut unter dem Schirm her­vor und Diana nickte beeindruckt.
„Höret, höret!“
Unter lauten Bekundungen von Minas Stim­mungsschwankungen und ihren Schilderungen der letzten Zeit in Bezug auf Männer betraten die beiden ausgelassen Handrens Lokal.
„Meine Prinzessinnen, Euch hab´ ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, Tee?“ geschäftig kam Handren hinter seinem Tresen hervor und linste über eine kleine Brille. Insgeheim galt der junge Mann für Mina und Diana als Fang, den man sich angeln müsste. Er war gutaussehend, nett, höflich und führte einen florierenden Imbiss. Männer und ihre Widersprüche wurden ausschließlich von Mina thematisiert. Diana zeigte sich diesbe­züglich eher verschlossen.
Handren nahm die Kolleginnen freundlich in den Arm, wobei Mina nicht nur seine neue Brille, sondern auch das Parfüm auffiel.
„Hey, was ist denn mit dir los? Hast Du eine Freundin?“
„Ach, öfter mal was Neues. Meine Sehkraft lässt nach.“
„Steht Dir gut. Ein bisschen wie Clark Kent. Komm her, mein Supermann!“ Handren bot den besten Döner der Stadt an, obwohl er ihn selbst in seiner Heimat nie so angerichtet hätte. Man musste sich eben anpassen, für Deutsche durfte das Essen nie zu exotisch werden.
„Mädels, habt ihr vom Medusenmord gehört?“
„Ja, ein echter Hammer!“ Mina sammelte einige Zwiebeln ein, die sich in beängstigendem Ausmaß um ihren Teller angesammelt hatten. Jetzt konnten ihre Tischnachbarn die genauen Kurven des Es­sens in ihrem Mund verfolgen.
„Kopf ab, Ungezie­fer und alles. Ob sie noch lebte, als man ihren Kopf abtrennte?“
„Mina, ich esse!“ Diana hatte sich eher zurück­gehalten. Sie hatte noch keine Meinung darüber und ahnte nur, welche Qualen das Opfer erlebt ha­ben musste.
„Ach Mist, ich muss los, hab´ was vergessen.“ Ihre Finger noch ableckend, stürzte Mina aus dem Lokal, ließ Diana und Handren mit ihrer Rech­nung verwundert an dem kleinen Tisch am Fenster zurück.
„Mhm, was ist jetzt schon wieder los? Euch Frauen soll einer verstehen. Diana, Du bist so still.“
Vom Bierdeckel unter ihrem Glas Wasser war nur noch ein Häufchen Papierfetzen übrig. Sie war in Handrens Nähe immer sehr aufgeregt und erst jetzt merkte sie, dass Mina die entscheidenden Ein­schübe des Gesprächs geliefert und sie nur einige ergänzende Wörter von sich gegeben hatte. Es war nicht ihre Art, einen Small Talk auf die Schnelle zu halten.
Als Handren sich einem weiteren Kunden widme­te, schloss Diana das Treffen mit einem Schein, den sie auf ihren Tisch legte.
„Handren, ich muss auch los, tschüss.“ Aufgewühlt stürzte sie aus dem Lo­kal wieder in Richtung Murhardsche, begleitet von einem letzten Winken und einem Kopfschütteln des jungen Wirtes.

(4) Was war das schon wieder

… für eine Aktion? Diana hatte oft Probleme, in Minas Kopf zu bli­cken. Meist kam sie ihr zu banal, gar zu schlicht vor. In manchen Fällen hatte sie aber das Gefühl, dass sie etwas im Schilde führte. Dass sie Diana jetzt mit Handren allein ließ, wies eher auf einen von Minas lichten Momenten hin und auf die Tatsache, dass Diana seit etwa drei Jahren Single war. Verärgert verließ auch sie das Lokal, denn heute wollte sie sich nun gar nicht verkuppeln lassen.
Sie dachte an ihr Zuhause und an die Anrufe in letzter Zeit, die sie nicht an­genommen hatte. Hinzu kam diese Medusensache in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.
„Shit!“ Diana zog einen ihrer Stiefel rettend über ein Rasenstück, nachdem ihr der Hundedreck auf­gefallen war. Ein bisschen Ruhe war das, was Dia­na eigentlich wollte. Hintergründig gab es aber im­mer wieder Störungen, die ihre Routinen beein­flussten und die die Auszeit ihrer eben erst abge­schlossenen Reise in weite Ferne rückten. Ein schöner Urlaub war es gewesen, aber von der Entspan­nung war nichts mehr übrig.
Sie war schon mitten in der Aue, als sie bemerk­te, dass sie diesen Umweg eingeschlagen hatte. Es war wie immer still, auch schien der Nebel des heutigen Morgens vom Geäst der Bäume gehalten zu werden. Einige Enten trieben noch langsam über das Wasser der kleinen Kanäle dahin und zogen lange Schneisen mit sich. Auf den Zweigen sammelte sich Raureif und unter ihren Füßen raschelte das Laub. Dass es so schnell ginge, den eigenen Atem in diesem Jahr zu sehen, war für Diana niederschmetternd, weil der Herbst genau die Jahreszeit war, in der die Menschen sich besonnen und in ihre selbst gebauten Kokons schlüpften. Diana wusste nicht, ob sie sich diesem Wunsch nach Frieden anschließen sollte oder ob es besser war, nicht ständig Zeit für die Probleme der Vergangenheit aufzubringen.
Der Staatspark Karlsaue umfasst eine Fläche von 1,5 km² und ist von Landgraf Karl um 1700 an­gelegt worden. Er diente mit seinen vielen baro­cken Attraktionen lange Zeit als Lustgarten und zur Repräsentation. Heute gilt die Karlsaue als Naherholungsgebiet für gestresste Städter und Laubenpieper.
Schon als Kind hatte Diana Erinnerungen an die großen Bäume, die ihr stets vertraut und Kraft spendend vorgekommen waren. Ihre Eltern hatten mit ihr gern Ausflüge in die Region unternommen und schon damals gefiel ihr die erhabene Anlage um die Orangerie. Als sie später zum Jobangebot in der Murhardschen Bibliothek auch eine Woh­nung in der Nähe der Aue bekam, sahen sie und Aaron das als großen Gewinn und als Belohnung ihrer bisherigen Mühen im Studium.
Im jetzigen Moment war ihr eher flau. Was sie eigentlich so liebte, kam ihr nun unheimlich und beängstigend vor. Die einst schützenden Bäume streckten sich wie Nachtgespenster aus dem Nebel hervor, die Diana mit ihren Fängen zu drohen schienen.
Wenn man über einen Seiteneingang in die Aue ging, war es wie das Eintauchen in eine fremde, verzauberte Welt. Exotische Tiere und Pflanzen konnte man direkt neben dem alltäglichen Ver­kehrschaos bestaunen und erahnen, welche Wesen hier nachts die Vormachtstellung hatten.
Diese blumige Phantasie wandelte sich für Diana in eine Tatsache, die aus der aktuellen Berichter­stattung folgte. Es kam ihr vor, als würde sie das mörderische Arrangement suchen, als hielte sie Ausschau nach dem Kopf und fürchtete, ihn zu finden. Klar, dass die Spuren längst gesichert wa­ren und man den Fund beseitigt hatte, aber irgend­wie schien die Stimmung hier eine andere zu sein.

 

Kanal Karlsaue

(5) Fast unmerklich

… beschleunigte sie ihre Schritte und wirbelte damit das Laub weiter auf. Alle Ge­räusche hörte sie plötzlich doppelt so laut, ihre Sinne verschärften sich. Sie drehte sich um und sah nun einen Mann, der seinen Schal tief ins Ge­sicht gezogen hatte. Er ging sehr nah hinter ihr, keine fünfzig Meter und sie ging noch schneller, bis ihr auffiel, dass er in eine andere Richtung abbog.
„Oh Mann!“ Erschöpft lehnte sich an einen Baumstamm. Das Blut hetzte durch ihre Adern und ihr Körper zitterte wie nach einem Marathonlauf. Den Kopf noch immer an den Stamm gelehnt, blickte Diana nach oben zu den Krähen, die sich lautstark über ihre Beute stritten und aufgeregt umher flogen.
`Bloß weg hier! Was bildest Du Dir nur ein?´ War ihre Angst so groß, dass sie am helllichten Tag davon ausging, rein zufällig von einem Fremden angegriffen zu werden? Wie standen die Chancen für diesen Ausgang? Auf schnellstem Wege bog sie in die Menzelstraße ein und ging den Rest an der stark befahrenen Frankfurter entlang.
„Und, wie war´s?“ Diana hasste es, wenn Mina augenzwinkernd und mit einem süffisanten Lä­cheln vor ihr stand. Sie ging davon aus, dass sie im Sinne der lieben Freundin ganze Arbeit geleistet hatte und war sicher, dass Handren der Richtige für Diana war.
„Warum krallst Du ihn Dir eigentlich nicht? Die Loser, die Du immer anschleppst, kann er locker in die Tasche stecken! Ach, mach´ Dir nix draus, hätte ja was werden können. Ihr seid aber auch verklemmt!“
„Verklemmt!“ Leise murrend ging Diana zur Theke und griff nach einem Bücherwa­gen, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Zum Glück war das Audit so gut wie in tro­ckenen Tüchern, sodass heute nur noch ein paar Studenten mit ihrer Ausleihe zu betreuen waren. Sie konnte ihre Gedanken etwas schweifen lassen und ein wenig abschalten. Die Sache von vorhin ließ sie nicht los.
Stärker war aber das Murren im Vorbewussten. Ein Grummeln, das sich immer und ausschließlich auf ihre Mutter bezog. Oft sah sie ihre Nummer auf dem Display und hörte keine Stimme, wenn das Telefon klingelte. Wütend hatte Diana das Kabel aus der Dose gerissen und war un­ruhig eingeschlafen. Beim Frühstück sah sie das blinkende Display.
„Äh, ich suche die Ingenieurswissenschaften.“
„Oh, da sind Sie hier falsch, wir sind die Be­reichsbibliothek sechs, sie müssen mit der Eins zur Ing-Schule fahren, die Haltestelle heißt da Mur­hardstraße, kommt oft vor.“
„Oh, danke, also mit der Eins.“ Die umständlich wirkende Studentin machte ein enttäuschtes Ge­sicht, war aber scheinbar froh, nun doch einen Hinweis zu ihrem Ziel zu finden und ließ die Tür laut ins Schloss fallen.
Diana hatte in letzter Zeit oft darüber nachge­dacht, wie es früher war. Jetzt holte sie genau die Vergangen­heit ein, die sie zu Studienzeiten noch erfolgreich hatte verdrängen können.
Es gab Regeln. In jeder Familie gibt es Regeln, aber bei ihr sprach man nicht vor Fremden dar­über. Diana konnte lachen, wenn andere erzählten, sie hätten zu viel Geld in einen Urlaub investiert oder wenn sie den Schulbeginn verschlafen hatten.
Ein sicheres Indiz für ein handfestes Pro­blem in ihrer Kindheit war eine unbenutzte Kaffee­maschine. Ihre Mutter Helen war immer gut drauf, sang morgens Lieder oder tanzte durch die Wohnung, während sie Dianas Frühstück vorbereitete und Kaffeeduft durch die Wohnung zog. War die Ma­schine unberührt, musste Diana weg.
Es gab noch einige andere Besonderheiten, die Dia­na zu einer guten Schauspielerin und loyalen Tochter hatten werden lassen.

(6) Damals, bei Onkel Helmuts

Geburtstag zum Beispiel. Onkel Helmut gehörte zu den Familienmitgliedern, die heute schon lange verstorben sind – Krebs – und an die man sich gern zurück erinnert. Ein dienstbe­flissener Arbeitnehmer, der auch im Rentenalter noch fleißig Haus und Hof bewirtschaftete. Diana war mit ihrer Familie zu seinem siebzigsten Ge­burtstag eingeladen. Sie mochte ihn, auch wenn dieser Tag einen Riss in das Verhältnis zu ih­rem geselligen Onkel gezogen hatte.
Diana konnte sich immer sehr gut an die vielen alten Stallungen und Winkel erinnern, die sie mit den anderen Kindern unsicher gemacht hatte. Ge­heimnisse wurden getauscht und im Heu ließ es sich optimal verstecken.
Ihrer Mutter schien es an diesem Tag ähnlich zu gehen, kam sie doch zerzaust aus dem Heu hervor­gekrochen und stolperte mehr oder weniger nüch­tern über den Hof zurück zur Kaffeegesellschaft. Ihr dicht auf den Fersen war der damals etwa acht­zehnjährige Robert, der denselben Gesichtsaus­druck trug. Ein Bild, das sich in Dianas Gedächtnis eingebrannt hatte. Verrat.
Robert war ein lieber Kerl und man sah ihn stets in seiner Rolle als zu­rückhaltender Cousin auf verschiedenen Festlich­keiten. Wie lange war das her? Vielleicht zehn, zwölf Jahre? Diana war jetzt fünfunddreißig. Ro­bert war sechs Jahre jünger als sie und irgendwie kam ihr der hagere Junge ohnehin viel jünger vor. Damals, am Kaffeetisch bei Onkel Helmut, zeigte sich zum ersten Mal eine Ohnmacht, die ihren Kör­per zu ermatten drohte.
Diese Ohnmacht hatte Diana auch in den fol­genden Jahren oft grundlos. Immer völlig abrupt durchliefen Schauer ihren Körper und hielten sie von ihrem Alltag ab.
Mit Aaron hatte sie darüber nicht sprechen kön­nen. Er hatte immer gesagt, sie solle nicht so ange­spannt sein und sich nicht so anstellen. Nicht sel­ten ging es für Diana so weit, dass sie still stand, wo sie gerade war.
Irgendwann konnte sie nicht mehr orten, woher es kam und sie akzeptier­te es als Kraft, die oft auftauchte, schnell ging, aber damit einen großen Teil ihres Lebens einnahm.
Damals, als sie mit Aaron zusammenkam, hatte sie gehofft, sich ihm öffnen zu können und anfangs schien es auch so. Sie hatten über vieles gespro­chen, hatten gemeinsam gelacht und sie hatte sich überwunden, von den vielen Regeln in ihrer Fami­lie zu erzählen.
Als es dann aber zur ersten Situati­on ihrer „Versteinerung“ während der Beziehung kam, reagierte Aaron ungehalten, zog sie heftig vom Bahnsteig weg und riss sie hinter sich her. Erst jetzt fiel es ihr wieder ein. Damals hatte sie es verstanden, dass Aaron so reagiert hatte.

(7) Es war einer dieser Feierabende,

um die Diana wirklich froh war. Jetzt bot sich die Gelegenheit, frei zu denken und sich schnellstens auf den Heim­weg zu machen. Mina hatte sie gefragt, ob sie nicht gemeinsam noch kurz in einer Bar einkehren woll­ten, aber nach dem Desaster der Mittagspause und Dianas glorreichem Abgang aus Handrens Imbiss wollte sie sich weitere Pleiten ersparen.
So sehnte sie sich einem Fernsehabend mit Tief­kühlpizza und schnurrendem Kater an ihrer Seite entgegen. Der Weg nach Hause hielt diesmal zum Glück keine Überraschungen bereit. Zwar däm­merte es schon, aber immerhin taten die Stadtwer­ke ihren soliden Dienst.
Diana war als Letzte aus der Bibliothek gekom­men und heute gruselte ihr noch nicht einmal so wie sonst, wenn es schon dunkel war. Sie hing gedanklich in der Vergangenheit. Ihre Mutter hatte damals nach dem Vorfall laut gelacht und gesagt, dass es Diana ja wohl nichts angehe und überhaupt sollte Diana ein bisschen darauf achten, mehr aus sich selbst zu machen. Damit waren die Fronten geklärt und sie schränkte den Kontakt zu ihrer Mutter erheblich ein und folgerte, dass ein Auszug von zu Hause wohl das Sinnvolls­te sein müsse. Vor ihrem Vater blieben diese Aus­einandersetzungen stets im Verborgenen.
Die Lampen reflektierten Autos und Straßenzü­ge. Scheinwerfer spiegelten sich in Fensterscheiben und zeigten damit an, dass die Nacht noch längst nicht hereingebrochen, der Feierabendverkehr aber in vollem Gange war.
„Klick-klack-klick-klack“. Das Stöckeln ihrer Schuhe auf dem harten Asphalt erlebte Diana als Befreiung. Sie hatte Frau­en bisher beneidet, die auf hohen Hacken durch die Welt spazierten. Lange Zeit war sie in Schul- und Studienzeiten auf Turnschuhen unter­wegs gewesen. In der unaus­gesprochenen Vereinbarung, sich für ihre Arbeit angemessen zu kleiden, hatte sie sich das Gehen auf Absätzen angewöhnt und mit jedem Klappern negierte es die Haltung ihrer Mutter.
Das Telefon blinkte. Noch in der Wohnungstür stehend, konnte sie den roten Schein des Blinkens in der Dämmerung erkennen. Es war ein eindring­liches Leuchten und schien mit Dianas anhalten­dem Blick intensiver zu werden.
„Hey, da bist Du ja!“ Moustache hatte sich im Laufe der Zeit einige Manieren angewöhnt, die man ausschließlich Hunden zuschrieb. So konnte er auf Kommando Männchen machen und ging stets bei Fuß. Dass er regelmäßig auf die zahlende Mitbewohnerin seines Heims wartete, gehörte für Diana zu seinen sympathischeren Eigenschaften. Sie nahm das Tier liebevoll auf den Arm, worauf es sogleich begann, laut und tief zu schnurren. Sein Fell war struppig und schwarz, zudem fehlte dem ehemaligen Heimtier ein Stück seines Schwanzes.
Aaron und Diana hatten ihn damals gemeinsam ausgesucht. Als sie sich ihrer Beziehung und dem Überschwang des Lebens in der gemeinsamen Wohnung sicher waren, hatten sie in der Wauz-Miauz-Insel gezielt diesen Kater gewählt. Aaron hatte sich immer über ihn lustig gemacht und ihn ihren Haudegen mit Kriegsverletzung genannt. Moustache schien sich daran nicht weiter zu stö­ren, solange er regelmäßige Mahlzeiten und ab und zu ein paar Streicheleinheiten bekam.
Der Kater verlangte eine Tagesstruktur, die Dia­na sogleich in seinem Sinne erfüllte. Pflichtbewusst zog sie ein frisches Mit-Huhn-in-Sauce-Gericht aus der Schublade und betrachtete das Tier, wie es genüsslich den Napf leerte. Sie selbst entschied sich für dasselbe Verfahren, öffnete eine Dose Ra­violi und ließ sie leise auf dem Herd köcheln.
Im Wohnzimmer angekommen, stellte Diana fest, dass es tatsächlich ihre Mutter war, die etwa fünfmal angerufen hatte. Seit sechs Uhr war sie im Abstand von etwa drei Stunden aktiv wählend ge­wesen.
Diana drückte mit Schrecken die Wahlwieder­holung. Ein langes Tuten strapazierte ihre Nerven und sie wartete gespannt, wie es jetzt weitergehen würde. Ihre Mutter Helen nahm ab. Und wartete. Leises Rascheln bestätigte die Annahme. Im Hintergrund waren einige Stimmen zu hören, vielleicht ein Fernseher.
Irgendwann hatten die Phasen begonnen, in denen ihre Mutter anrief, aber nicht mehr sprach. Sie öff­nete keine Haustür mehr und antwortete weder auf Briefe oder E-Mails. Es war etwas Trotzi­ges, vielleicht Wut, die Diana ebenso warten ließ, ohne diesmal ein Gespräch zu beginnen.

(8) „Mach´ Dir keine Sorgen.

Sie wird sich irgend­wann beruhigen. Jetzt leg´ Dich erst mal hin und morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Sollen wir morgen ein bisschen zusammen früh­stücken und ein bisschen shoppen?“
„Aber nur ein ganz kleines bisschen.“ Diana war dankbar für Minas Anruf, der sie nach dem Telefonat mit ihrer Mutter erreicht hatte. Mina konnte sie aufbauen. So viel stand fest und wenn es nur um profane Verspre­chen des Konsums ging. So verabschiedete sie sich lachend und freute sich auf das bevorstehende Wochenende.
Am nächsten Morgen hatten sich Wetter und Stimmung deutlich gebessert. Moustache schaute verschlafen drein, als Diana bereits rätselnd vor ih­rem Kleiderschrank einige Stücke auswählte, um sich für eine Shoppingtour zu rüsten. Sie entschied sich für ein Kleid, das sie zwar zum Anlass eher unpassend fand, weil es sehr festlich war, aber sie wollte diesen schönen Tag in angemessener Robe begehen. So trat sie aus der Tür mit einem burgunderroten bestickten Kleid, hohen Schuhen und einer karierten Strumpfhose, die sich farblich auffallend absetzte.
„Ich dachte schon, Du kommst nicht mehr. Pünktlichkeit ist eine Zier, meine Süße!“ Mina kam ihr lachend entgegen und schloss sie herzlich in die Arme.
„Schön, dass Du Zeit hast.“
„Na klar, ich brauch´ eh´ noch tausend Sachen. Da kann mir ruhig einer beim Tragen helfen.“
Auf dem Weg zum Lokal begann Diana bereits aufgeregt mit ihrer Erzählung des vorherigen Abends und ließ auch den Vorfall in der Karlsaue nicht aus. Dass sie sich so verfolgt fühlen würde, hätte sie nie gedacht und irgendwie spielte dieses Erlebnis in das gestrige Unwohlsein hinein.
„Naja, die Schneider war in den letzten Tagen auch ziemlich stressig. Das Audit macht ihr zu schaffen, aber nächste Woche haben wir´s endgül­tig geschafft. Der Auditor ist doch ein ganz netter Kerl. Und mit Deiner Mutter? Hat sich was erge­ben?“
„Nein, Funkstille, wie immer, naja, wenn man es wenigstens so nennen könnte, aber sie ruft ja trotzdem an, sagt halt nix.“
Sie hatten im Café einen Fensterplatz ergattert. Diana freute sich immer, wenn sie sich bei Gesprä­chen mit einigen Blicken auf Passanten ablenken konnte. So auch jetzt.
„Äh, ich nehme ein großes französisches Früh­stück mit Prosecco.“ Lächelnd nickte Mina Diana zu. Diese beschloss, dieselbe Wahl zu treffen in der Hoffnung, insgesamt durch den Prosecco etwas lo­ckerer zu werden.
„Gerne, die Damen!“ Der junge Kellner zwinker­te leicht und Mina war nicht entgangen, dass so­wohl seine Vorder-, als auch seine Rückseite die ganze Zierde des Cafés darstellen mussten.
„Knackarsch, aber nun zu Deiner Ma. Du hast nichts geantwortet? Warum schreist Du nicht mal richtig und peitschst ihr Deine Wut ins Gesicht?“
„Ich kann das nicht, ist eben meine Mutter und eine labile Persönlichkeit. Die war schon immer so.“ Mit einem großen Schluck setzte sie an zu einer Geschichte, die Mina sehr traurig dreinblicken ließ und die bis weit in den Nachmittag gedauert ha­ben musste, jedenfalls stand die Sonne schon tiefer als zu dem Zeitpunkt ihrer Bestellung und die Gäste um sie herum aßen bereits Kaffee und Kuchen.
„Ja, wollen wir vielleicht noch ein bisschen ge­hen?“
„Gut, machen wir.“
Die Karlsaue war trotz oder gerade wegen des Mordes gut besucht. Viele wollten die letzten Son­nenstrahlen einfangen und sie am liebsten für den Herbst aufheben. An der Haupttreppe spielte der barock gekleidete Musiker seine Harfe, was der Szene rund um die Orangerie eine friedliche At­mosphäre verlieh.
„Oh je, da hab´ ich mit meiner Mutter ja ´nen echten Schnapp gemacht.“
„Aber ehrlich. Noch ´nen Eis?“ Sie schlenderten zu einem kleinen Eis­wagen. An ihren Eiskugeln leckend, gingen sie durch die Aue zurück und Mina verabschiedete ihre Freundin gebührend.
„Und sieh´ nicht in das Gesicht der Medusa!“ Die­ses lästerliche Verhalten konnte Diana bei Mina zwar nicht ausstehen, aber Diana wusste, dass sie es stets gut mit ihrer Freundin meinte und sie nur aufheitern wollte, wenn auch oft auf Kosten ande­rer.

 

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(9) „Ja Mutti,

dem Erich geht´s gut. Ja, er frisst or­dentlich. Tschüss, ich muss jetzt auflegen. Tschüss ich komm´ bald vorbei, ja, mach´s gut.“
Erich marschierte voraus und verlangsamte da­mit die Schritte seines Herrn. Anton Gardner hatte sich vor zwei Monaten nach Deutschland verset­zen lassen, um näher bei seiner Mutter zu sein, die in einem vorzüglichen Seniorenheim residierte und nahezu stündlich anrief.
Dass ihr Hund nun ein wesentlicher Bestandteil dieser räumlichen Veränderung war, hatte er nicht kalkuliert. Die letzten Reste seiner Bratwurst schob er dem Tier entgegen, das heute noch nichts geges­sen und sich über die ungewohnte Mahlzeit über­rascht, aber erfreut gezeigt hatte.
„Ja, schau´ Erich, ja, Dir schmeckts, ja?“ Erich war ein Rassehund mit langem Stammbaum, auch wenn seine kurzen Beine und das vom Alter schon graue und struppige Fell nicht mehr darauf schlie­ßen ließen. Jetzt kaute er mit seinen verbleibenden Zähnen die Wurst, wobei sein ganzer Körper merklich bebte. Das Tier hatte sich längst mit seinen neuen Lebensumständen arrangiert, gerade weil es in letzter Zeit viel zu sehen bekam und auf uner­wartete Mahlzeiten hoffen durfte.
Für Gardners Mutter hingegen war eine Welt zusammengebrochen, als sie vor drei Monaten mit ihrer Mobilität auch ihr geliebtes Tier verloren hat­te. Sie ließ keine Gelegenheit aus, zu erzählen, dass Erich mit ihr gealtert war, aber sie stets jung gehalten hatte.
Nun gab Gardner mit dem Tier ein merkwürdi­ges Gespann ab. Hunde ohne polizeiliche Ausbil­dung waren eigentlich in der Dienststelle verboten. Weil einer der beiden Österreicher aber als Kory­phäe bei der Aufklärung der verzwicktesten Fälle galt, sahen die Kollegen über diese Regelverlet­zung diskret hinweg.
„Ja kommst, beweg´ Deinen Hintern.“
Erich protestierte lautstark, als ihm auffiel, dass es doch mehr Stufen waren, die sein Herrchen ihm abverlangte. Kurzerhand schnappte Gardner das Tier und trug es die restlichen Stufen hoch.
„Hast a Mundgeruch, Herrschaftszeiten, ist des hoch. Gell, Erich, wie kann man so weit oben woh­nen? Na, des wär´ nix für uns.“
Zustimmend bellte das Tier und erstmals verspürte Gardner ein Ge­fühl von Verbundenheit. Oben angekommen, at­meten beide durch, bevor der Klingelknopf betä­tigt wurde.
„Äh, guten Tag, sind Sie Diana Neu­mann?“
„Ja, hallo die bin ich. Kann ich helfen?“
„Gardner, Kripo Kassel, kennens diese Person?“

(10) Der Mann im zu knappen Trenchcoat

hätte in Kombination mit dem Dackel lächerlich gewirkt. Er schwitzte stark und beide hechelten um die Wette, so dass Diana sich fast aufgefordert fühlte, ein Sauerstoffzelt herbeischaffen zu müssen. Wäre da nicht das Foto gewesen.
„Äh, wollen Sie erst mal ´reinkommen?“ Gard­ner und sein Hund betraten dankbar die Wohnung in der Hoffnung, hier eine Sitzgelegenheit und vielleicht einen Schluck Wasser zu erhalten. So­gleich fing Moustache an, die Eindringlinge mit mehr oder weniger ambitioniertem Fauchen zu be­grüßen.
„Machen Sie sich um den keine Sorgen. Der ist harmlos. Der greift ihren Hund nicht an. Schönes Tier.“
„Gehört mir nicht, gehört meiner – äh, kennen Sie den jetzt?“
Diana nahm das Foto in die Hand. Abgebildet war ein schlimm zugerichteter junger Mann, der in der Hand einen Speer trug. Er war im Gras liegend fotografiert worden und offenbar tot.
„Das Foto ist im Bergpark entstanden, oder?“
„Ja, kennens´ sich gut aus hier?“
„Im Hintergrund ist die Teufelsbrücke zu se­hen.“
„Ach, bin nicht von hier, gerade aus Wien ´kom­men und naja, da muss man sich erst mal einleben. Aber stimmt, ist wirklich im Bergpark entstanden.“
„Ist ja furchtbar, das Gesicht ist ganz zerkratzt.“ Das Bild war in höchster Weise irritierend und es löste in Diana verschiedene Emotionen aus. Zum Einen hatte man die Leiche kunstvoll mit dem Speer arrangiert, als sei hier die Schlussszene eines Theaterstückes aufgenommen worden, in der der Held ganz klassisch am Ende gestorben war und zum Anderen wurde Diana das Gefühl nicht los, dass sie ihn tatsächlich irgendwoher kannte. Dass es ihr nicht einfiel, machte die Situation noch ab­surder.
„Ich meine, ich habe ihn schon mal gesehen. Ich kenne ihn, aber irgendwie kann ich ihn nicht zu­ordnen.“
„Das ist beim Zustand der Leiche auch nicht weiter überraschend, vermute ich.“
„Ja, vielleicht. Möchten Sie was trinken? Wie sind Sie denn eigentlich auf mich gekommen?“ Sorgfältig füllte sie Kaffeepulver in einen Filter und stellte die Maschine an.
„Frau Neumann, die Kasseler Kollegen vermu­ten, dass der Mord an der jungen Frau vor einem Monat in der Karlsaue mit diesem z´ammenhängt. Beide wirken inszeniert – Kopf ab, Speer, wissens´ – und wir gehen vom selben Mörder aus.“
„Ach.“ Diana setzte sich.
„Das Fräulein aus der Karlsaue heißt Irena Jas­zinsky.“ Er zückte ein weiteres Foto, das noch gro­tesker wirkte als das erste.
„Die hat bei uns ein Praktikum gemacht, ach Du Scheiße.“ Errötend über ihre plötzliche Aussage strich Diana sich mit der geschlossenen Hand über den Mund. „Was ist da passiert?“
„Derzeit sind wir froh, dass wir sie identifizie­ren konnten. Auch ihr Zustand ist ja eher schlecht.“
Diana konnte sich nur noch vage an die zierli­che Studentin erinnern, die für ein Praktikum nach Deutschland gekommen war, um die ältere deut­sche Geschichte in der Praxis zu studieren. Sie hat­te sich eher unauffällig verhalten. Kaum nahm man sie je wahr, aber sie gab immer kluge Antworten, wenn man ein Gespräch mit ihr begann. Sie war gegangen wie alle, die als Praktikanten kamen. Sie blieben nicht lang, halfen ein bisschen mit und verschwanden wieder.
„Wissen die anderen Mitarbeiter davon?“
„Ja, ich habe Sie heute morgen benachrichtigt. Ihre Vorgesetzte sagte, dass Sie näheren Kontakt zu ihr gehabt hätten, deshalb suche ich Sie heute auf.“
„Mhm, eigentlich nicht. Naja, was man so ne­benher erzählt. Sie war sehr fleißig, hat ihre Auf­träge korrekt erledigt und zeigte sich engagiert. Ein paar Mal habe ich sie in der Stadt getroffen und dann grüßte sie immer sehr freundlich. Wirk­lich schlimm.“
„Ja, das ist ein besonders heikler Fall, zumal ihre Eltern in Polen leben und die Überführung wirk­lich kompliziert wird. Wir ermitteln dort gemein­sam mit den Kollegen.“
Noch immer war Diana nicht dazu gekommen, die alte Milch zu ersetzen, sodass sie dem Kom­missar eine starke Tasse schwarzen Kaffee mit viel Zucker anbot, der sich darüber aber zu freuen schi­en. Sie selbst spürte langsam, wie ihr Herz stärker pochte als sonst, konnte aber nicht mehr unter­scheiden, ob dies vom Kaffee oder von der un­glaublichen Nachricht herrührte.
„Ja, danke, ich melde mich bei Ihnen und höre mich um. Ich bin sicher, den Mann schon mal gese­hen zu haben.“

(11) Den Inhalt des Gesprächs

Den Inhalt des Gespräches hatte Diana als sehr unangenehm empfunden. Die Anwesenheit dieses leicht zerstreut wirkenden Kommissars mit seinem ebenso zauseligen Dackel und dem unverkennbar österreichischen Akzent hielt sie jedoch für sehr sympathisch und ihr fiel auf, wie gut ihr deren Da­sein im letzten Moment noch getan hatte.
Jetzt, als beide gegangen waren, schien ihr die Nachricht den Boden unter den Füßen zu nehmen. Nicht nur, dass ihre nette Praktikantin das Opfer des „Medusenmörders“ geworden war, sondern es war vor allem das Bild des zweiten Opfers, über das sie nachdachte. Sie war sich sicher, ihn zu ken­nen.
„Tut Dir auch mal gut, wenn einer Dein Revier angreift und Du Dich etwas bewegst.“
Moustache kniff leicht die Augen zusammen, kümmerte sich aber nicht mehr weiter um den Kommentar, hatte er sich doch nach einer ersten Inventarisierung des Gegners schnell wieder auf seine faule Haut zu­rückbegeben.
Diana versuchte, Mina anzurufen, warf das Te­lefon aber nach einem enttäuschten Warten des Freizeichens zurück auf die Ladestation.
„Naja, dann gibt´s heute mal Döner.“ Jetzt nach Feierabend kam sich Diana irgendwie verraten vor. Hatten vor ihr schon alle Kollegen Bescheid gewusst und hatte man sie mit den Fotos allein zu­rück gelassen? Gehörte sie doch noch nicht so dazu, wie man es sie spüren ließ? Vor ihrem geisti­gen Auge sah sie alle Mitglieder der Bereichsbi­bliotheken an einem riesigen runden Tisch mit nachdenklichen Gesichtern über dem Fall brütend, während sie selbst seelenruhig Bücherstapel zu­rück ins Regal sortierte.
Sie wollte Mina zur Rede stellen. Jetzt, wo die Einsamkeit sich immer weiter in Angst umkehrte, wählte sie eine für sie eher unkonventionelle Me­thode und begab sich auf direktem Weg entlang der Frankfurter Straße zu Handren, der in vollem Gange duftendes Fladenbrot mit allerlei Fleisch und Gemüse belegte.
„Ah, hallo Diana, warte, ich komme gleich. Heute ist viel los, mein Neffe hilft mit.“
„Ja, danke.“ Sie wählte einen Tisch in der hinte­ren Ecke des Lokals. Er schien ihr in dieser Situati­on die richtige Wahl zu sein. Gerade groß genug für zwei Personen und eher dunkel sehr nah an der Wand gelegen. Diana lächelte, als sie die kit­schige, aber liebevolle Herbstdekoration sah, die die Familie auf den Tischen arrangiert hatte.
„Na, gefällt Dir die Deko?“
„Ja und so schön passend zum Wetter. Kann ich eine Salattasche bekommen?“
„Klar, Semir, mach´ unserer besten Kundin einen schönen großen vegetarischen Döner mit ex­tra scharfer Sauce.“
„Danke.“ Sie lächelte leicht, wusste er doch im­mer, welche Zutaten sie bevorzugte.
„Schön, dass Du kommst. Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht´s Dir?“
„Du, diese Medusa, von der in der Zeitung die Rede war, das war unsere Praktikantin.“
„Wirklich? Erzähl!“
Sie begann zu erzählen vom absurden Besuch des österreichischen Kommissars und von der Praktikantin, die ihr Praktikum schon vor etwa dreieinhalb Jahren in der Bibliothek been­det hatte. Seit dieser Zeit hatte Diana gedacht, dass die junge Frau zurück nach Gdansk gegangen war. Kommissar Gardner hatte ihr jedoch mitgeteilt, dass sie eine Stelle an der Uni Kassel angenommen hatte.
„Siehst Du? Man registriert manche Menschen kaum. Dieses hübsche Mädchen – und ich weiß nichts mehr von ihr. Noch nicht mal auf dem Bild habe ich sie richtig erkannt.“
„Ach, da mach´ Dir mal keinen Vorwurf. Men­schen sehen sich eben oft ähnlich.“
„Die hatte hier wahrscheinlich niemanden. Der Kommissar sagt, die Überführung nach Polen wür­de problematisch. Sie soll zu Hause bei ihren Eltern begraben werden.“
„Verstehe.“
„Er hat mir zwei Fotos gezeigt. Auf dem einen war sie abgebildet und Handren?“
„Mhm?“
Sie beugte sich jetzt näher zu ihm über den Tisch, dabei fühlte sie, wie das Feuer der Ker­ze warm auf ihre Arme schien.
„Auf dem zweiten Foto war eine neue Leiche. Du musst dichthalten. Ich weiß nicht, ob das schon öffentlich werden darf, aber ich glaube, den kenne ich.“
„Wen?“
„Ein Mann Mitte Dreißig wurde bei der Teufels­brücke im Bergpark gefunden.“ Sie nahm einen großen Bissen und spürte, wie sie wieder zu Kräf­ten kam.
„Ja, und? Weiter!“
„Sein Gesicht war total blutig und zerkratzt, er lag irgendwie unnatürlich, außerdem hatte er einen Speer in der Hand.“
„Einen Speer?“ Handren sprach das Wort aus, als hätte er etwas fremdes im Mund, dessen Ge­schmack ihm noch unbekannt war. Diana machte eine ausladende Bewegung mit ihrem Arm, bei dem sie eine Faust ballte. „Ja? Speer zum Werfen.“ Handren hielt inne, Diana kaute weiter.
„Zum Töten.“ kam ihr leiser über die Lippen und Handren verstand.
„Und Du denkst, Du kennst ihn?“
„Ja, von früher, aber ich weiß nicht woher, das Gesicht ist ja nicht mehr zu erkennen und wegen der Irena kamen sie dann auf mich. Sie gehen von einem Serienmord aus, weil beide eben nicht ein­fach so umgebracht wurden.“
„Mhm, hast Du mal im Handy nachgesehen?“
„Im Handy?“
„Na Kontakte! Da guck´ ich manchmal, wenn mir der Name nicht einfällt.“ Etwas genervt zog Diana ihr Handy aus der Tasche bar jeglicher Hoff­nung, dass das etwas bringen könnte. Sie hatte vie­le Kontakte gespeichert, von denen sie nur etwa eine Handvoll brauchte. Eigentlich hätte sie den Speicherplatz auch freihalten können, aber etwas stolz war sie immer auf die stattliche Telefonliste gewesen, die sie seit der Existenz ihres ersten Han­dys ständig erweitert hatte.
„Anne, Beyer, Decker, Mina, Pizzablitz, Schnei­der, Schrödter, Zilinsky, was soll das bringen?“ Unzählige Vor- und Nachnamen in alphabetischer Reihenfolge rauschten blitzschnell vorbei und Handren schnalzte anerkennend mit der Zunge.
„Wen Du alles kennst! Bist ja ganz schön wich­tig, Prinzessin.“ Er lachte herzhaft.
„Deinen Speicher will ich mal sehen! Die ständi­gen Nachrichten, die Du von Deiner ganzen Fami­lie bekommst.“
„Da hast Du Recht, aber Bürgermeister stehen bei mir nicht drin.“
„Ach, Du spinnst.“ Der Abend war für Diana be­ruhigend und sie war mit Handren über die Fälle auf ungezwungene Art ins Gespräch gekommen.

Übersatt von den Spezialitäten, die sie allesamt probieren musste, steuerte sie den Heimweg an und bewunderte die Beleuchtung der wenigen Schaufenster, die sehr sorgfältig eine Auswahl ih­res Warenangebotes präsentierten. Sie hörte wie­der ihre Schuhe auf dem Asphalt und blickte hoch. Eisenwaren Heinrich Koch, das kleine Reisebüro, Haarstyling Schrödter oder ein paar Kunstgalerien waren die noch heimlich Herrschenden der Süd­stadt, die den neuen 99-Cent-Läden die Stirn bie­ten wollten. Schrödter?!